Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
Jahre alt sein mochte. Von seinem Gesicht, das von einer großen Knollennase beherrscht wurde, war kaum etwas zu sehen, da die obere Hälfte von einem Turban verhüllt und die untere von einem grauen k rausen Bart überwuchert wurde. Seine Leibesfülle wurde von einem weiten Gewand bedeckt, über dem er einen losen Mantel aus bestickter Seide trug, dazu eine Schärpe um den beträchtlichen Wanst. Auf den ersten Blick war dieser Mann für Chaya ein Fremder, denn nichts an ihm schien an die hagere, asketische Erscheinung Isaac Ben Salomons zu erinnern. In seinen dunklen, von buschigen Brauen überwölbten Augen jedoch erkannte Chaya ihren Vater wieder.
»Onkel Ezra?«, fragte sie zaghaft.
Der Beleibte stand vor ihr wie vom Donner gerührt. Dann hellte sich seine bärtige Miene plötzlich auf. »Chaya! Nichte!«
Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, etwas erwidern konnte Chaya nicht mehr, denn die Pranken ihres Onkels packten sie an den Schultern und im nächsten Moment wurde Chaya mit einer Innigkeit an die breite Brust des Kaufmanns gedrückt, dass sie kaum noch Luft bekam. Nur für einen kurzen Augenblick ließ er sie los und schob sie auf Armlänge von sich weg, um sie zu betrachten, dann zog er sie erneut an sich heran und umarmte sie so herzlich wie ein Vater ein verloren geglaubtes Kind.
»Dass es mir altem Mann vergönnt ist, das noch zu erleben«, sagte er mit Tränen in den Augen und dankte Gott in einem kurzen Gebet. Erst dann gab er Chaya wieder frei, noch immer überwältigt vor Freude. »V erzeih einem alten Narren seine Gefühlsduselei, mein Kind.« Sein Tonfall erinnerte Chaya unweigerlich an ihren Vater. »Aber von dem Tag an, da Issac mich in einem Brief über euer Kommen unterrichtete, gab es keine Stunde, in der ich nicht an euch gedacht und für eure sichere Ankunft gebetet habe – und nun endlich seid ihr hier.«
»Ich bin hier, Onkel«, erklärte Chaya leise und beugte traurig das Haupt.
»Und – Isaac?«
Chaya wagte es nicht aufzublicken. Sie wollte das Entsetzen in den Zügen ihres Onkels nicht sehen, wollte nicht an i hren eigenen Schmerz erinnert werden. Sie schüttelte einfach nur den Kopf und blickte zu Boden. Aber wenn sie geglaubt hatte, dass Ezra in Wehklagen ausbrechen würde, so hatte sie sich geirrt. »Armes Kind«, sagte der Kaufmann stattdessen in ehrlichem Bedauern, während er ihr den Arm auf die Schulter legte und sie ins Haus zog. »W as hast du alles durchmachen müssen? Du wirst mir alles berichten, was geschehen ist, hörst du? Jede Einzelheit. Doch nun komm erst einmal herein und sei willkommen in meinem Haus. Mögest du hier Erholung finden von der langen Reise …«
»… und Trost«, fügte jemand hinzu, der hinter Ezra im Halbdunkel des Ganges stand.
Es war ein junger Mann, der etwa in Chayas Alter sein mochte, vielleicht ein wenig jünger. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten, sein Kinnbart noch kaum gewachsen. Ein Lächeln lag auf seinem schmalen Gesicht, die dunklen Augen blickten in stiller Erwartung.
»Darf ich vorstellen?«, fragte Ezra, nachdem er die Tür hinter Chaya geschlossen und wieder verriegelt hatte. »Dies ist Caleb, mein einziger Sohn und dein Cousin.«
»Schalom, Chaya«, sagte Caleb, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Schalom, Caleb«, erwiderte sie und beugte leicht das Haupt.
»Eigentlich müsstest du Caleb noch aus deinen Kindertagen kennen, aus der Zeit, bevor ich Köln verließ, um ins Land der Väter zu gehen und dort für Isaac – ich meine für deinen Vater – eine Handelsniederlassung zu gründen. Ihr habt zusammen gespielt, als ihr noch klein wart.«
»Ich erinnere mich dunkel.« Chaya nickte. »Du hast mich an den Haaren gezogen und mich mit Lehm beworfen.«
»W irklich?« Caleb errötete ein wenig. »Das würde ich heute nicht mehr tun, glaub mir.«
»Das glaube ich dir gern.« Sie lächelte. »Du bist ein ansehnlicher junger Mann geworden.«
» Sag so etwas nicht«, ging Ezra dazwischen. »Du bringst den armen Burschen nur in Verlegenheit.« Er lachte, freilich auf Calebs Kosten, der darüber noch mehr errötete. Dann wurde der Kaufmann plötzlich wieder ernst. »Sag, mein Kind, hast du …? Ich meine …«
Ihm war anzusehen, dass es etwas gab, das er nicht beim Namen nennen wollte, wohl weil er nicht wusste, ob seine Nichte überhaupt Kenntnis hatte von den Dingen, die ihren Vater bewegt hatten. Chaya beschloss, das Versteckspiel zu beenden.
»Können wir offen reden?«, fragte sie.
»Natürlich«,
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