Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
ich fürchte ihn nicht mehr«, behauptete Guillaume, der mit den Tränen zu kämpfen hatte, so sehr fühlte er sich gedemütigt. »Macht es Euch denn gar nichts aus, wie er uns behandelt? Dass er uns fortwährend beleidigt und erniedrigt?«
Eleanor schaute ihn lange an. Leiser Spott sprach aus ihren von Falten zerfurchten Zügen, die mit ihren hervorspringenden Knochen und den eingesunkenen Augen immer mehr von einem Totenschädel hatten. »Ich habe mich daran gewöhnt«, sagte sie.
»Aber ich kann und will mich nicht daran gewöhnen«, zeterte Guillaume und ging wütend im Zelt auf und ab. »Habt Ihr bemerkt, wie er mich angesehen hat? Wie ein lästiges Insekt! Er wird mich niemals anerkennen, ganz gleich, was ich tue!«
»Du musst Geduld haben, Guillaume. Deine Zeit wird kommen.«
»W ann, Mutter, wollt Ihr mir das sagen? Seit Monaten wiederholt Ihr immer dieselben Worte, sucht mich mit denselben Phrasen zu beruhigen. Aber sie greifen nicht mehr! Ihr habt mir Zugang zum königlichen Hof verschafft und mich in die Bruderschaft eingeführt, doch was hat es mir eingebracht? Nichts, Mutter, gar nichts! Weder habe ich meinen Einfluss vermehren noch mir die Anerkennung des Barons verdienen können.«
»Die Anerkennung des Barons zu verdienen war nicht unser Ziel«, brachte seine Mutter in Erinnerung.
»Aber unsere Macht zu mehren ist uns ebenfalls nicht gelungen«, zischte Guillaume. »W ohin ich auch gehe, was ich auch unternehme, immer stoße ich an meine Grenzen. Andere b esetzen die Positionen, die ich einnehmen sollte: mein Vater, Eustace …«
»Du musst Geduld haben«, wiederholte Eleanor beschwörend.
»Aber ich will nicht mehr!«, brüllte Guillaume so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Auch die Tränen der Verzweiflung konnte er nicht mehr länger zurückhalten. »V ielleicht hat Vater ja recht, und ich bin tatsächlich ein feiger Taugenichts!«
»Das bist du nicht«, widersprach seine Mutter entschieden. »Das darfst du nicht einmal denken.«
»Aber warum liebt er mich dann nicht, wie ein Vater seinen Sohn lieben sollte? Warum verschafft er mir nicht die Anerkennung, die mir aufgrund meines Namens und meiner Herkunft zukäme? Warum, Mutter, könnt Ihr mir das sagen?«
Eleanor bedachte Guillaume mit einem prüfenden Blick. Die Tatsache, dass sich der Zorn ihres Sohnes nicht mehr ausschließlich auf den Baron, sondern inzwischen auch auf sie richtete, schien sie zu beunruhigen, denn sie legte Stickrahmen und Nadel beiseite, erhob sich und trat um den Tisch herum auf ihn zu, eine bleiche, geisterhafte Gestalt, die in ihrem langen Kleid über den Boden zu schweben schien.
»W as, wenn er nicht dein Vater wäre?«, fragte sie nur.
Guillaume stockte jäh in seinem Lamento, blickte aus geröteten Augen zu ihr auf. »W -was?«
»W enn er nicht dein Vater wäre, sondern nur derjenige, der sich als dein Vater ausgegeben hat, was dann?«
»W arum sollte er so etwas tun?«
»V ielleicht, um den Besitz seiner Familie durch einen Erben zu sichern. Vielleicht auch, um nicht vor aller Welt eingestehen zu müssen, dass er nicht in der Lage ist, selbst einen Erben zu zeugen.«
»Ist das wahr?«
»So wahr ich hier vor dir stehe.« Eleanor verzog keine Miene.
G uillaume nickte zustimmend. Sein Verstand wehrte sich nicht einen Augenblick lang, das anzuerkennen, was sein Herz schon vor Jahren begriffen hatte. Im Gegenteil, seltsame Euphorie erfüllte ihn plötzlich. Endlich ergab alles Sinn, erkannte er den Grund für de Reins Ablehnung und sein hartherziges Wesen …
»W arum habt Ihr es mir nicht früher gesagt?«, wollte er von seiner Mutter wissen. »Es hätte mir manches erspart.«
»Ein Eid hat mich gebunden, den ich einst geschworen habe.«
»Gegenüber wem? Renald de Rein?«
»Nein. Gegenüber dem Mann, den du deinen Onkel nanntest, obgleich er in Wahrheit dein Vater gewesen ist.«
»Osbert«, flüsterte Guillaume fassungslos. »Osbert de Rein war in Wirklichkeit mein Vater?«
Sie nickte. »Ein Teil von dir hat es immer gewusst, oder nicht?«
Guillaume hatte Mühe, die Fassung zu wahren.
Dass der Baron und er so unterschiedlich waren, wie sie es nur sein konnten, war eine unbestreitbare Tatsache und dass er sein Leben lang vergeblich um die Gunst dieses ebenso starrsinnigen wie hartherzigen Mannes gerungen hatte, ließ sich ebenfalls nicht leugnen. Bislang hatte Guillaume dies darauf zurückgeführt, dass er den Anforderungen, die Renald de Rein an seinen Nachkommen und Erben stellte,
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