Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
hätte nicht gedacht, dass …«
»Dass was, meine Tochter? Dass ein Buch all dies hier recht f ertigen könnte?« Er machte eine ausladende Handbewegung, die nicht nur die Zelle und das Kloster, sondern die ganze beschwerliche Reise einzuschließen schien.
»In der Art«, gestand Chaya leise.
»Und was, wenn ich dir sagte, dass der Inhalt dieses Buches von solcher Wichtigkeit ist, dass er die Geschicke nicht nur unseres Volkes, sondern der ganzen Welt verändern könnte? Und dass es aus diesem Grund keinesfalls in die falschen Hände gelangen darf?«
»W urde es dir aus diesem Grund übergeben?«
Isaac nickte. »Auf seinem Sterbebett hat mein Vater deinem Onkel Ezra und mir das Versprechen abgenommen, das Buch an einen anderen Ort zu bringen, falls die Zeit dafür kommen sollte, und es nötigenfalls mit unserem Leben zu schützen.«
»Und diese Zeit ist gekommen?«
»Nach allem, was geschehen ist, kann daran wohl kein Zweifel bestehen«, erwiderte der alte Kaufmann und strich sorgfältig seinen Bart zurecht, der im Zuge der Wanderschaft noch länger, aber auch ein wenig wirr geworden war.
»Aber warum erfahre ich erst jetzt davon, Vater? Warum hast du in all den Jahren niemals auch nur ein Wort darüber verloren?«
»W eil es nicht notwendig war.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über die faltigen Gesichtszüge.
»Hat Mutter davon gewusst?«
Isaac schüttelte den Kopf. »Nein. Warum hätte ich es ihr auch sagen sollen? Generationen sind gekommen und gegangen, und viele Träger haben ihr Versprechen geleistet, ohne dass man je von ihnen verlangt hätte, es einzulösen.«
»W arum dann ausgerechnet bei dir, Vater?«.
Der alte Isaac schaute sie lange an. Ihr Haar war inzwischen ein wenig nachgewachsen, sodass ein dünner dunkler Flaum ihre Kopfhaut bedeckte, aber ihm war anzusehen, dass der Anblick ihm noch immer das Herz in der Brust zerriss. »W eil, meine Tochter, wir uns nicht aussuchen können, in welchen Z eiten wir leben oder welche Opfer der Herr von uns verlangt«, gab er leise zur Antwort.
Chaya wandte den Blick. Obwohl sie nun mehr wusste als zuvor, kam sie sich seltsam töricht vor. Töricht, weil sie gefragt hatte. Töricht aber auch, weil sie zu ahnen begann, wie ungeheuer groß die Verantwortung war, die auf den Schultern ihres alten Vaters lastete. Ihr eigenes Verhalten kam ihr plötzlich unreif und selbstsüchtig vor. Beschämt starrte sie auf den kahlen Steinboden der Zelle.
»V erzeih, Vater«, flüsterte sie. »W enn ich gewusst hätte …«
»Da ist nichts zu verzeihen, Chaya. Du hast getan, was du deinem Wesen nach tun musstest. Obschon ich die Art und Weise, wie du deinen Willen ertrotzt hast, noch immer nicht gutheißen kann.«
»Es tut mir leid.«
Isaac lächelte schwach. »Als ich in jungen Jahren jenes Versprechen gab, das mich heute bindet, was wusste ich da schon? Was für eine Vorstellung hatte ich davon, was es heißt, ein Mann zu sein und Verantwortung zu tragen für ein Amt, für ein Heim, für eine Familie? Ich hatte keine Ahnung von den Wirrungen des Lebens, geschweige denn konnte ich mir ausmalen, dass man jene Pflicht, die ich so bereitwillig übernommen hatte, eines Tages tatsächlich von mir einfordern würde. Oft genug frage ich mich, ob ich ihr überhaupt gewachsen bin.«
»Dann lass mich dir helfen. Auf diese Weise könnte ich wiedergutmachen, was ich …«
»Du willst mir helfen? Wie, meine Tochter?«
»Indem ich das Geheimnis mit dir teile. Indem wir die Verantwortung auf unser beider Schultern verteilen.«
»Deine gute Absicht ehrt dich, Chaya, aber das ist nicht möglich.« Der alte Kaufmann schüttelte das schlohweiße Haupt. »Ich habe ein feierliches Versprechen gegeben, das Geheimnis zu wahren. Nur vom Vater an den Sohn darf es weitergegeben werden.«
» Nicht an den Diener?« Chaya hatte die Frage kaum ausgesprochen, als sie es auch schon bereute. Sie hatte Regeln gebrochen, indem sie sich gegen den Willen ihres Vaters aufgelehnt hatte, und sie tat es noch immer, indem sie ihr Geschlecht verbarg und sich als Mann verkleidete. Aber ihr musste auch klar sein, dass diese Täuschung nicht von Dauer sein und sie sich zwar einzelnen Regeln widersetzen konnte, nicht aber der Tradition des Volkes Israel, die über all die Jahrhunderte den wahren Glauben bewahrt und das Überleben in der Fremde gesichert hatte.
Ihr Vater schien denselben Gedanken zu haben. »Du bist weit gekommen und hast manches erreicht«, beschied er ihr ernst, »aber auch deinem
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