Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
Streben sind Grenzen gesetzt.«
Damit blies er die Kerze aus, sodass die Zelle schlagartig ins Dunkel fiel. Chaya konnte hören, wie ihr Vater den Leuchter neben seiner Schlafstatt auf den Boden stellte und sich dann schlafen legte. »Gute Nacht, meine Tochter«, sagte er noch – schon kurz darauf konnte sie an seinen ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen erkennen, dass er eingeschlafen war.
Zu gerne hätte auch Chaya die Augen geschlossen, nicht nur, um nach den Strapazen des Tages Erholung zu finden, sondern auch, um den bohrenden Fragen zu entgehen, die sie beschäftigten. Aber die Worte ihres Vaters ließen ihr keine Ruhe.
Was, wenn ich dir sagte, dass der Inhalt dieser Schrift von solcher Wichtigkeit ist, dass er die Geschicke nicht nur unseres Volkes, sondern der ganzen Welt verändern könnte? Und dass es aus diesem Grund keinesfalls in die falschen Hände gelangen darf?
Noch immer hallten die Worte in ihrem Bewusstsein nach, wie ein Echo, das nicht verklang. Was hatten sie zu bedeuten? Was für ein Geheimnis war es, das die Schriftrolle enthielt? Was konnte von so großer Bedeutung sein, dass ein Mann bereit war, all seine Habe, seine gesellschaftliche Stellung und sogar seine Familie zu opfern, um es zu bewahren? Welche Verantwortung konnte so groß sein, dass selbst ein Mann wie I saac Ben Salomon, zu dem sie stets aufgeblickt hatte, weil er für sie der Inbegriff von Besonnenheit und Weisheit war, sich ihr kaum gewachsen fühlte?
Das Nachdenken über diese Fragen verwirrte sie nur noch mehr, und je länger sie darüber brütete, desto weiter war sie davon entfernt, Ruhe zu finden. Die Stille in der Kammer wurde zur Last, und aus dem Halbdunkel, das sie umgab, trat die Vergangenheit hervor, in Form von Bildern, Gefühlen und Erinnerungen.
Chaya sah ihre Mutter, das graue Haar um die sanften Züge zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, so wie sie es innerhalb des Hauses stets getragen hatte; ihr Mund lächelte, aber ihre dunklen Augen blickten in seltsamer Melancholie. Unwillkürlich fragte sich Chaya, was ihre Mutter zu alldem gesagt hätte. Hätte sie Verständnis dafür gehabt, dass Isaac ihr über all die Jahre hinweg verschwiegen hatte, welch weitreichendes Versprechen er gegeben hatte? Hätte sie Chayas Auflehnung gegen die Entscheidung ihres Vaters verstanden oder sie dafür getadelt?
Das Bild wechselte, und sie sah Mordechai Ben Neri, dessen Frau sie um ein Haar geworden wäre, sein durchaus ebenmäßiges, von schwarzem Haar umrahmtes Antlitz, aus dem ein schönes, allerdings auch berechnendes Augenpaar blickte. Trotz aller Strapazen, die sie auf der langen Reise hatte erdulden müssen, trotz aller Gefahren und Unwägbarkeiten, auf die sie sich eingelassen hatte, statt die Gemahlin eines der vermögendsten Männer von ganz Köln zu werden, hatte Chaya ihren Entschluss noch keinen Augenblick bereut.
Umso mehr bedauerte sie dafür, ihren Vater, dessen sorgenvolle Züge als Letztes vor ihrem inneren Auge auftauchten, enttäuscht zu haben. Mehr denn je wünschte sie sich, etwas davon wiedergutmachen zu können, indem sie ihm bei seiner Mission half und ihm zur Seite stand – aber wie sollte sie das, wenn sie noch nicht einmal wusste, worum genau es dabei eigentlich ging?
I n diesem Moment, als sie sich ruhelos auf ihrem Lager herumwarf und ihr Blick dem fahlen Streifen Mondlicht folgte, das durch das hohe Fenster der Zelle fiel, sah sie den Behälter, den ihr Vater seinem Versprechen gemäß auch im Schlaf umhängen hatte.
Fast kam es ihr vor, als würde sie das Stück zum ersten Mal erblicken, in jedem Fall jedoch sah sie es plötzlich mit anderen Augen. Nicht mehr als ein Hindernis zwischen ihr und ihrem Vater, sondern als Chance, seine Liebe und Anerkennung wieder ganz zurückzugewinnen – und nebenbei auch die Wahrheit zu erfahren.
Natürlich war es ein Risiko und natürlich war es verboten. Als der Gedanke ihr zum ersten Mal durch den Kopf ging – nur als vager Einfall und noch weit davon entfernt, zum Entschluss zu reifen –, erschrak sie vor sich selbst und schloss die Augen, als könnte sie sich so der Versuchung entziehen.
Doch das Zeichen auf dem ledernen Köcher, der aus zwei ineinander verschlungenen Dreiecken bestehende Stern, übte eine Faszination auf sie aus, die stärker war als alle Vorbehalte. Irgendwann schließlich – wohl weit nach Mitternacht, denn der Mond hatte den größten Teil seines Weges bereits bewältigt – wurde aus dem anfangs so vagen Gedanken
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