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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Haut.
    DIE KALIFENMUTTER
    E s war ein Raunen hinter Seide, ein Flüstern zwischen Kissen aus Brokat.
    » Sie kommen! Sie werden bald hier sein! Sie brennen Bagdad nieder und ermorden uns alle! «
    Im Harem sprachen die Frauen seit Tagen von nichts anderem mehr. Im großen Hauptsaal mit seinen Gebirgen aus Kissen und den wehenden Vorhängen fanden die Gerüchte die größte Verbreitung; ebenso im Badehaus, dessen Wasserbecken allein dem Kalifen und seinen Gespielinnen vorbehalten waren; in den Separees, eingerichtet nach Art fremder Länder und erfundener Städte; in den Musikzimmern und lichten Räumen für Malerei und Spiel; und selbst des Nachts hörte man geflüsterte Stimmen im Dunkeln, die die Gräueltaten der Mongolen heraufbeschworen wie Rachgeister aus einer magischen Flasche.
    Nur dann verstummten die Gerüchte, wenn einer der Eunuchen in der Nähe war, Hünen mit kahl rasierten Schädeln und Gewändern aus Seide und Leder: Pluderhosen, spitzem Schuhwerk, bestickten Hemden und Westen, breiten Schärpen und goldenen Schwertgehängen. Sie standen stumm an allen Türen des weitläufigen Harems, traten manches Mal unverhofft hinter Säulen und Vorhängen hervor, wenn man sich unbeobachtet fühlte, und waren gleichermaßen darauf bedacht, die Säle vor Eindringlingen zu schützen wie auch die Frauen von einer vergeblichen Flucht abzuhalten.
    Sinaida hatte rasch erkannt, dass das Dasein im Harem des Kalifen für seine Bewohnerinnen Fluch und Segen in gleichem Maße bedeutete. Sie führten ein Leben im Überfluss. Jeder Wunsch wurde ihnen von den Augen abgelesen und von greisen Dienerinnen in die Tat umgesetzt. Es gab Bäder in Stutenmilch und kostbaren Ölen, Kleider aus aller Herren Länder und den ganzen Tag musikalische Begleitung durch Flötenspiel und Lautenklänge.
    Zugleich aber bedeutete der Eintritt in den Harem einen Abschied von der früheren Welt, denn die Bedeutung des Wortes Freiheit erschöpfte sich fortan in Spaziergängen in den Gärten des Palastes oder, einmal im Jahr, einem streng bewachten Ausflug in einen der Basare der Stadt. An solch einem Tag hatte niemand sonst Zutritt zu den Ständen. Auch die Händler nahmen gern in Kauf, dass man ihnen die Augen verband, denn es gab bei den Einkäufen der Haremsdamen kein Feilschen oder Anpreisen: Die Frauen wählten aus, was sie begehrten, und die Eunuchen bezahlten widerspruchslos jeden Preis, solange er in vernunftvollem Rahmen blieb – was stets der Fall war, denn kein Kaufmann wollte all seiner Besitztümer enteignet und in einen Kerker des Palastes geworfen werden.
    Doch solch oberflächliche Vorzüge konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nur zwei Wege aus dem Harem gab. Entweder eine Frau verlor die Gunst des Herrschers und wurde mit einem hochrangigen Offizier oder Verbündeten verheiratet – oder aber sie nahm sich das Leben. Denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und der Überwachung durch die Eunuchen gab es immer wieder Verzweifelte, die diesen Weg in die Freiheit wählten. Ein Schnitt am Handgelenk mit der Scherbe eines Bechers, ein Sprung von einem der Balkone in den sicheren Tod, sogar eigenhändige Strangulation mit Gürteln, goldenen Schnüren und Seidenschärpen.
    Seit elf Tagen war Sinaida nun bereits eine Gefangene i m H arem al-Mutasims, und allmählich kam sie zu der Überzeugung, dass man sie nicht wieder laufen lassen würde. Den Wesir hatte sie seit ihrem ersten Gespräch nicht wieder gesehen, und man hatte ihr keine Botschaft von ihm überbracht. Die Tatsache, dass seit Tagen von der Bedrohung durch die Große Horde gewispert wurde, zeigte ihr immerhin, dass ihre Mühen nicht umsonst gewesen waren. Doch sie ahnte auch, dass der Wesir nie vorgehabt hatte, sie nach der Bestätigung ihrer Warnung durch seine Späher auf freien Fuß zu setzen. Stattdessen hatte er das Verdienst dieser Entdeckung zweifellos als sein eigenes ausgegeben.
    Nicht, dass seine Hinterlist sie überraschte. Männer wie er festigten seit jeher ihre Stellung, indem sie die Ehre für die Leistungen anderer einheimsten. Sie hatte geglaubt, ihn durch den Tod seiner beiden Gardisten beeindruckt zu haben. Nun enttäuschte es sie, dass er ernsthaft zu glauben schien, ein paar baumlange Eunuchen mit Krummschwertern könnten sie aufhalten.
    Heute, am elften Tag ihrer Gefangenschaft zwischen Seidenkissen, Duftwassern und feinem Lautenspiel, entschied sie, dass sie lange genug gewartet hatte. Die Große Horde konnte jeden Tag über die Stadt herfallen, und

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