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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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berührte nur mit den Zehenspitzen den Boden.
    Kasim hatte einst versprochen, ihr beizubringen, wie man unter der Decke läuft, doch dazu war ihnen keine Zeit mehr geblieben. Wieder sah sie ihn auf dem großen Platz brennen, während das Feuer die Gesichter der Mongolen erhitzte. Einen Herzschlag lang musste sie die Augen fest zusammenkneifen, um die Heimsuchung wieder abzuschütteln.
    Als sie die Lider öffnete, war sie nicht mehr allein.
    In der Mitte des Saals stand eine kleine, schmächtige Gestalt, eine Silhouette in schwarzen Gewändern, so als wäre sie eben erst aus den Schatten zwischen den Kissen emporgewachsen. Sinaida hatte sie nicht hereinkommen sehen, und nun fragte sie sich verblüfft, ob die alte Frau schon dort gestanden hatte, als sie das Schlafgemach verlassen hatte.
    » Prinzessin Sinaida «, sagte die Alte mit heiserer Stimme. » Sei so gut, und folge mir. « Damit wandte die Frau sich um, durchquerte den Saal und bog auf der gegenüberliegenden Seite in einen Korridor, der zum Badehaus des Harems führte.
    Sinaidas Gedanken überschlugen sich. Sie kannte die Frau. Es war die Edle Zubaida, die Mutter des Kalifen und Gebieterin des Harems. Es war seit jeher Tradition, dass die Mutter des Herrschers auch über seine Frauen und Mätressen wachte, und Zubaida versah diese Aufgabe mit größter Strenge und Sorgfalt. Falls sie ahnte, dass Sinaida in dieser Nacht fliehen wollte, so hatte sie die Wachen sicher bereits alarmiert.
    Es wäre ein Leichtes gewesen, die alte Frau zu überwältigen, sie zu knebeln und zu fesseln. Doch Sinaida zögerte.
    Die Edle Zubaida war im Schatten zwischen den Säulen verschwunden und in einer Lichtinsel auf dem Korridor zum Badehaus wieder aufgetaucht. Dort stand sie vollkommen reglos, nur ein schwarzer Umriss, und schien darauf zu warten, dass Sinaida ihrer Aufforderung Folge leistete.
    Mit einem tiefen Atemzug löste Sinaida sich von der Wand und trat ins Licht der Öllampen. Ohne Eile, aber so zielstrebig wie eben möglich, durchmaß sie den Kissensaal und betrat den Korridor. Tagsüber schallten einem hier die Stimmen der Badenden entgegen, das Geplätscher von albernen Wasserspielen. Jetzt aber, so spät am Abend, herrschte vollkommene Stille.
    Zubaida hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, als sie sicher war, dass Sinaida ihr folgte. In einem Abstand von zehn Schritten ging sie voran und erreichte bald den gewölbten Badesaal. Sein Portal stand weit offen.
    » Tritt ein «, sagte Zubaida, und obgleich die Worte ein Befehl waren, klang ihre Stimme nicht so herrisch wie sonst. Die meisten Bewohnerinnen des Harems fürchteten sie wie den Teufel selbst, und viele hatten guten Grund dazu. Zubaida war keine gnädige Frau, und wenn sie glaubte, eines der Mädchen habe sich ihrem Sohn nicht mit aller Hingabe gewidmet, verhängte sie Strafen wie Stockschläge und Peitschenhiebe.
    Das Badehaus lag unter einer eindrucksvollen Kuppel aus türkisfarbenen Kacheln und Mosaiken. Mehrere Becken waren in den Boden eingelassen, dazwischen verlief ein Netzwerk marmorner Laufstege. Einige Bassins waren mit filigranen Brücken überbaut.
    Die Wasseroberflächen lagen glatt wie Spiegel. Seit Stunden war niemand hierher gekommen. Nirgends waren Eunuchen zu sehen. Der Schein vereinzelter Öllampen reflektierte auf dem Wasser, aber er reichte nicht aus, die Halle vollständig zu erhellen.
    Zubaida ging voraus zu einer Nische, die in Form einer geöffneten Muschel in die gewölbte Wand eingelassen war. Es gab mehrere davon, die meisten mit gepolsterten Sitzgelegenheiten. Doch die alte Frau blieb stehen und wandte sic h z u Sinaida um, als diese argwöhnisch näher kam. Ein Öllicht in einer Wandhalterung tauchte ihr Gesicht in gelblichen Schein.
    » Ich weiß, was du vorhast «, sagte die Kalifenmutter. Sie war kleiner als Sinaida. Auch die weiten Gewänder konnten ihren zerbrechlichen Körperbau nicht kaschieren. Ihr Gesicht war schmal und faltig, die Nase breit, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Altersflecken bedeckten die vorstehenden Wangenknochen. Zubaida war sicher nie eine schöne Frau gewesen, und manche behaupteten, gerade deshalb ging sie mit den Mädchen des Harems besonders hart ins Gericht.
    Sinaida sagte nichts. Wartete ab.
    » Du willst von hier fliehen «, fuhr die alte Frau fort. » Und wer könnte dir das verübeln? «
    » Wenn Ihr das glaubt, warum ruft Ihr dann nicht die Eunuchen? « Sinaida hatte gewusst, dass sie früher oder später nicht um einen Kampf herumkäme.

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