Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
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Sinaida hatte ihren Schleier vor dem Gesicht befestigt und wartete im Schatten einer Säule, während Zubaida mit zwei Wachmännern sprach, die vor einer goldenen Tür zu den Gemächern das Kalifen standen. Nach einer kurzen Unterredung kehrte die alte Frau zu ihr zurück. Die Kalifenmutter war so klein und schmal, dass es aussah, als schwebe sie über dem marmornen Boden.
» Er ist nicht in seinen Gemächern. Offenbar ist er mit einigen Besuchern zur Bibliothek gegangen. «
» In die Bibliothek? «
Zubaida lächelte nachsichtig. » Wer diese eine besitzt, der braucht gewiss keine zweite. «
Die Erinnerung stieg sauer wie Galle in Sinaida empor. Die legendäre Bibliothek von Bagdad war der Preis, den Shadhan für seinen Verrat an Khur Shah und den Nizaris gefordert hatte. Aus ihr erhoffte er sich das nötige Wissen, um das letzte Geheimnis der Alten vom Berge zu entschlüsseln – die Macht, den Garten Allahs nach eigenem Gutdünken betreten und verlassen zu können. Das Volk von Alamut hatte dafür mit seinem Leben bezahlen müssen.
Zubaida setzte sich in Bewegung, ein Gestalt gewordener Schatten in den nächtlichen Fluren des Palastes. » Wir gehen gleich zu ihm «, sagte sie, ohne abzuwarten, ob Sinaida ihr folgte. » Abu Tahir hat bereits viel zu viel Zeit verschwendet. Beeilen wir uns! «
» Der Wesir wird nicht glücklich sein, wenn er davon erfährt. «
Die alte Frau machte ein abfälliges Geräusch. » Sei versichert, er wird davon erfahren! Er hat einmal zu oft seine eigenen Interessen über die des Reiches gestellt. «
Sie eilten durch ein Raster aus Dunkel und Mondschein, über verwunschene Innenhöfe und an endlosen Reihen vo n T üren vorüber, mächtige Freitreppen hinab, die sich wie marmorne Wasserfälle von Stockwerk zu Stockwerk ergossen, und durch Gänge, die schier unendlich erschienen. Schließlich traten sie hinaus in die Kälte der Winternacht und durchquerten die Gärten.
» Siehst du die Zinnen dort, hinter den Bäumen? « Zubaida deutete im Gehen auf einen Wall aus dichtem Astwerk. Sinaida nickte. » Sieht aus wie ein zweiter Palast. «
» Ein Palast des Wissens «, sagte die alte Frau. » Die größte Bibliothek der Welt. «
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Zum ersten Mal in ihrem Leben tat Libuse, was von einer Frau erwartet wurde: Sie hielt sich im Hintergrund. Nicht etwa, weil sie nicht genauso wie die Männer beim Anblick dieses Ortes von Ehrfurcht gepackt wurde. Doch sie war nicht hier, um die Bibliothek zu bewundern, sondern um auf ihren Vater Acht zu geben. Das konnte sie am besten, wenn sie ein paar Schritt weit abseits stand und die Umgebung im Auge behielt.
Die Erbauer dieses Gebäudes hatten keinen Platz verschwendet. Es gab keine Eingangshalle, nicht einmal gefälliges Schmuckwerk – allein dadurch unterschied sich dieser Ort gänzlich vom Inneren des Kalifenpalastes.
Das Gemäuer mit seinen verschachtelten Höckern und Kuppeln, den breiten Türmen und Anbauten, bestand aus einer einzigen, schier unermesslichen Halle. Wie tief sie sich ins Dunkel ausdehnte, konnte Libuse nur erahnen, denn die Beleuchtung war schlecht. Es gab einige Öllichter, vor allem in der Nähe des Eingangs, die in mehrfach gesicherten Käfigen flackerten. Weiter weg blieb nur das Mondlicht zur Orientierung, das durch die hohen schmalen Fenster hereinfiel und eine Ahnung von Weite erzeugte, die so endlos schien wie der Sternenhimmel selbst.
An den Wänden verliefen hölzerne Balustraden, die durch schmale Treppen und Brücken miteinander verbunden waren. Diese Stege, gerade breit genug für einen Menschen, verliefen kreuz und quer über ihren Köpfen. Nur die unteren wurden zaghaft vom Licht der Lampen beschienen. Alle Übrigen – vier, fünf, sechs Stockwerke hoch oben – glichen einem schwarzen Netz vor dem eisgrauen Mondschein.
Libuse hatte Folianten erwartet, wie in der Kammer ihres Vaters daheim im Turm. Doch selbst im Halbdunkel der Nacht sah sie nun, dass lediglich ein Bruchteil der Regale mit ledernen Buchrücken gefüllt war. In den meisten waren Schriftrollen übereinander gestapelt, viele durch geschlossene Hüllen geschützt, andere offen dem schleichenden Verfall ausgesetzt. Es roch intensiv nach Papyrus, durchmischt mit dem Geruch gegerbten Leders. Auch glaubte sie den Duft gewisser Öle zu erkennen, mit denen ihr Vater seine kostbarsten Schriften einrieb, um die Rinderhäute geschmeidig zu halten.
Sie wünschte sich, Aelvin wäre hier, um das zu sehen. Nicht einmal seine Arbeit im Skriptorium
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