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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Furcht, zwischen den Menschenmassen zerquetscht zu werden. Mehr als einmal bekam Aelvin keine Luft, bis er wütend um sich schlug, gleichfalls Hiebe von irgendwo aus dem Gewimmel abbekam, aber nach einem Augenblick wieder durchatmen konnte. Er hatte schreckliche Angst um Favola und – zu seiner eigenen Überraschung – sogar um den Schrein auf ihrem Rücken. Wie leicht wäre es, ihn in diesem Gewühl zu verlieren.
    Irgendwann, nach endlosem Schieben und Drücken und Drängeln, erreichten sie endlich das Tor. Der eigentliche Zugang befand sich nicht, wie bei abendländischen Stadttoren üblich, an der Vorderseite, sondern an der rechten Seitenwand des Torkastells; er war so schmal, dass gerade einmal zwei oder drei Menschen gleichzeitig hindurchpassten.
    Wie Sand in einer Uhr drängte die Menge auf den Engpass zu, und hier wurde das Gewimmel mörderisch. Nicht weit von sich entfernt sah Aelvin eine kreischende Frau in den Körperfluten untergehen wie in einer Sturzflut; erst wedelte sie noch verzweifelt mit den Armen, dann verschwand sie, wurde niedergetrampelt und unter Dutzenden von Füßen zermalmt. Ein Mann schrie ihren Namen, wurde ebenfalls von den Wogen erfasst und untergespült. Ob sie Kinder hatten und was aus ihnen wurde, konnte Aelvin nicht erkennen, aber in diesem Mob stand es schlecht um jeden, der den anderen an Größe oder Stärke unterlegen war.
    Er fluchte, als er sah, dass die Soldaten am Tor im Begriff waren, die hohen Holzflügel zu schließen. Das durfte nicht sein! Nicht, nachdem sie sich bis hierher vorgekämpft hatten!
    Doch er hatte die Wut der Menge unterschätzt. Als immer mehr Menschen erkannten, dass sie ausgesperrt werden sollten, schoben sie sich mit noch mehr Macht nach vorn. Überall ertönten zwischen den zornigen Rufen jetzt auch Schmerzensschreie, als die Zahl jener, die dem Druck nicht mehr standhielten, schlagartig anstieg.
    Aelvin schaute nach hinten, hatte Favola für einen Moment aus den Augen verloren, und wurde von Panik ergriffen, als er sich fragte, ob der Stoffzipfel in seiner Hand womöglich alles war, was er während der letzten Schritte mit sich gezerrt hatte. Dann aber tauchte sie wieder auf, wie eine Schiffbrüchige zwischen stürmischen Wellen, und er sah, dass sie gestikulierte. Sie war gleich hinter ihm, und jetzt ertastete ihr Handschuh den seinen. Seine Erleichterung war so groß, dass ihm blitzartig eine Frage in den Sinn kam: Konnte Favola es in diesem Getümmel wirklich vermeiden, die Haut eines anderen Menschen zu berühren? Gewiss, ein jeder hier war dick vermummt gegen die winterliche Kälte. Aber rieb nicht auch einmal Gesicht an Gesicht? Oder schob sich womöglich ein Ärmel zurück?
    Doch Favola wirkte, trotz aller Angst, erdrückt zu werden, nicht so, als würde sie von den Todesvisionen fremder Menschen gepeinigt. War es möglich, dass sie schlichtweg nicht daran dachte? War das ein weiterer Beweis, dass die Todsicht nur ihrer Einbildung entsprang?
    Eine neue Woge erfasste sie. Aelvin verlor den Boden unter den Füßen und wurde von der Menge vorwärts geschwemmt. Er konnte sich nicht bewegen, war vollständig eingeklemmt, während er und hundert andere in einem mächtigen Schwung über die schmale Brücke vor dem Zugang trieben, an den Torflügeln fast zerquetscht wurden und dann, noch imme r i m Pulk, aber urplötzlich freier und auf eigenen Füßen ins Innere der Runden Stadt stolperten und stürzten.
    Hinter ihnen zückten die Soldaten jetzt ihre Schwerter und begannen, auf Nachzügler einzuhacken, als wären sie der Feind, der gegen die Stadt anrannte. Blut spritzte, als sich die ersten Wunden öffneten. Glieder wurden abgetrennt, Schädel gespalten, Gesichter zertrümmert. Hauptleute schrien Befehle, und erneut warfen sich Wächter von innen gegen das Tor.
    Diesmal gelang es, der blutenden, geschundenen Menge entgegenzuwirken. Finger, Hände und Arme wurden zwischen den eisenbeschlagenen Kanten der Holzflügel zerquetscht und zerplatzten wie schlecht gestopfte Würste.
    Dann war das Tor geschlossen. Die Männer legten zitternd einen schweren Balken in die Vorrichtungen. Der Zugang zur Runden Stadt war endgültig verriegelt.
    Aelvin sah Blut auf seiner Kleidung, auch auf Favolas Gewand, und er konnte nur hoffen, dass es nicht ihr eigenes war. Wortlos griff er nach ihrer Hand, und dann trieben sie mit dem Strom weiter ins Innere, tiefer hinein in die letzte sichere Bastion im Herzen Bagdads.
    *
    Sinaida beendete ihren Bericht in einem der

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