Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
wusste das. Und doch konnte er nicht anders handeln.
Er war Heerführer. Der Blinde Riese, so nannten sie ihn.
Sie war nur seine Tochter, einfach irgendein Mädchen.
*
Von einem der Hauptleute ließ Libuse sich einen Passierschein ausstellen, der es ihr gestattete, die Palastgärten zu verlassen und durch die Runde Stadt zu streifen. Sie redete sich ein, dass Aelvin und Favola es vielleicht doch noch hinter den Mauerwall geschafft hatten, und ahnte zugleich, dass sie sich selbst etwas vormachte. Dennoch konnte sie nicht aufgeben, musste tun, was in ihrer Macht stand, um die beiden wiederzufinden. Die Angst, Aelvin könnte dort draußen in den brennenden Stadtvierteln ums Leben kommen, lahmte ihre Vernunft.
Was sie sah, als sie die Gärten durch das Kufah-Tor verließ, erschütterte sie zutiefst. Das Elend der Flüchtlinge, die sich in der Kälte des Winters auf den Straßen um Lagerfeuer scharten, berührte sie weit mehr, als sie für möglich gehalten hatte. Noch herrschte kein Hunger, doch schon jetzt erkrankten die Menschen an ihrem eigenen Schmutz. Es gab zu wenig Trinkwasser. Die Mongolen hatten die Kanäle gestaut, und zum Waschen blieb nicht ein einziger Tropfen. Nicht mehr lange, und es würden erste Krankheiten ausbrechen. Der Tod käme dann ganz von selbst, auch ohne die Schwerter der Großen Horde.
Die Soldaten auf den Wällen konnten nichts tun, um die Not zu lindern. Wie lange würden sie ihre Kampfmoral aufrechterhalten? Und was war mit jenen, die das Geschrei der Unglücklichen außerhalb der Tore nicht mehr ertrugen?
Meutereien waren unausweichlich, das erkannte Libuse gleich bei ihrem ersten Rundgang durch die überfüllten Gassen der Runden Stadt. Schon jetzt zeichnete sich ab, dass das Volk den Soldaten die Schuld an seinem Elend gab. Wenn einzelne Trupps vom Palast aufbrachen, um die Männer auf der äußeren Mauer zu verstärken oder abzulösen, wurden Steine geworfen und Beschimpfungen skandiert. Der Aufruhr kochte einem schrecklichen Höhepunkt entgegen. Libuse war zum ersten Mal dankbar für den Schleier vor ihrem Gesicht, denn bald fürchtete sie die randalierenden Massen ebenso sehr wie die näher rückenden Mongolen.
Vom Kufah-Tor aus folgte sie den Gassen durch die ehemaligen Basare zu den beiden äußeren Mauerringen. Von allen Seiten wurde sie bedrängt, bis sie sich fragte, wohin die Menschen einander eigentlich schoben. Mal flutete der Strom nach innen, dann wieder nach außen, obgleich man doch meinen sollte, dass die Massen aufgrund der verschlossenen Tore irgendwann zur Ruhe kommen würden. Offenbar aber gab es immer wieder welche, die anderswo einen besseren Platz vermuteten und mit ihren Familien dorthin aufbrachen, während aus derselben Richtung andere herbeidrängten, weil es den Gerüchten zufolge gerade hier erträglicher sein sollte. Dabei, so vermutete Libuse, ging es in Wahrheit gar nicht darum, dass irgendwer dem Gerede wirklich Glauben schenkte; vielmehr kämpften die Menschen gegen die Tatenlosigkeit an, zu der man sie verdammt hatte. Man verlangte von ihnen, dazusitzen und abzuwarten, bis die Mongolen über die Mauern stürmten.
Am ersten Tag musste Libuse auf halber Strecke aufgeben, weil es kein Durchkommen mehr gab. Für die meisten Menschen war nicht einmal ausreichend Platz, sich irgendwo hinzulegen; ein Großteil lehnte an den Mauern aus Lehmziegeln oder kauerte mit eng angezogenen Knien am Boden, um so wenig Raum wie möglich zu beanspruchen. Die schachte l förmigen Verkaufskammern der früheren Basare, rechts und links der Gassen, waren längst von Flüchtlingen vereinnahmt worden, ebenso die oberen Etagen und sogar die Dächer. Falls Aelvin und Favola es wirklich geschafft hatten, war es unmöglich, sie in diesem Gewimmel ausfindig zu machen.
Am zweiten Tag nach Corax ’ Ernennung zum Obersten Heerführer gelangte Libuse bis zur mittleren Mauer, die den Schutzstreifen aus Ödland von der eigentlichen Außenbefestigung der Runden Stadt trennte. Vor dem inneren Tor hockten Männer und Frauen auf Knien vor den Wachleuten und flehten sie an, den Durchgang noch ein einziges Mal zu öffnen, um Kindern, Eheleuten oder Eltern den Schutz der Runden Stadt zu gewähren. Libuse wandte sich rasch von diesem grausamen Spektakel ab. Immer wieder griffen Soldaten zur Peitsche, um die Bittsteller auseinander zu treiben. Geschah das auf Befehl ihres Vaters? Sie bezweifelte es – nicht, weil sie ihn in Schutz nehmen wollte, sondern weil er und Sinaida alle Hände
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