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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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voll damit zu tun hatten, sich mit einem nicht enden wollenden Strom von Hauptleuten zu besprechen, Beratungen mit dem Kalifen abzuhalten und sich aus den Archiven der Bibliothek Berichte über frühere Schlachten, die vor den Mauern Bagdads geschlagen worden waren, verlesen zu lassen; den Umgang mit den Flüchtlingen überließen sie anderen. Viele dieser Aufgaben hätten schon vor Wochen erledigt werden müssen. Sich erst jetzt damit zu beschäftigen, wo doch in den Vorstädten längst gekämpft wurde, war mehr, als ein Mensch bewältigen konnte. Und obgleich Sinaida Corax voller Tatkraft beistand und damit nicht nur ihn selbst überraschte, zeichnete sich doch ab, dass die meisten Verteidigungsmaßnahmen viel zu spät kamen.
    Am dritten Tag kehrte Libuse erst gegen Abend in den Palast zurück. Einmal mehr war ihre Suche nach Aelvin und Favola erfolglos gewesen. Sie war kurz davor, alle Hoffnung zu verlieren. Sie erfuhr, dass Albertus sich nach wie vor in der Bibliothek vergrub, um mithilfe des Jungen Harun nach der Karte des Jüngers zu suchen. Ob er sie fand oder nicht – für Libuse spielte das kaum mehr eine Rolle.
    Rund um die Stadt wurde der Himmel selbst bei Nacht nicht mehr dunkel. Die brennenden Quartiere tauchten die Wolkendecke in rotgoldenen Flammenschein. Der Rauch trieb über die Mauern und erschwerte zu mancher Stunde selbst hier, im Zentrum der Runden Stadt, das Atmen.
    Sie fand ihren Vater in seinem Ruheraum, unmittelbar neben den Hallen, in denen er, Sinaida und der Kalif die Hauptleute empfingen, Taktiken besprachen und Strategien verabschiedeten. In einer Seitenkammer war ein Diwan errichtet worden, auf dem Corax sich in unregelmäßigen Abständen schlafen legte. Meist reichte die Zeit nicht für mehr als eine kurze Pause, niemals länger als zwei oder drei Stunden am Stück. Es war ungewöhnlich, dass er Libuse ausgerechnet hier empfing.
    » Du wolltest mich sehen? «, fragte sie, als sie eintrat und die Tür vor den beiden Leibgardisten an der Außenseite zudrückte. Das Holz war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, märchenhaften Darstellungen von Gärten voller Jungfrauen und Fabeltieren. Ob ihr Vater versucht hatte, sie zu ertasten? Entstanden dabei hinter seinen blinden Augen Bilder, die mit denen der Wirklichkeit übereinstimmten? Oder erzählten ihm seine Finger vollkommen andere Geschichten?
    » Danke, dass du gekommen bist «, sagte er.
    » Ich bin gerade erst in den Palast zurückgekehrt, sonst wäre ich schon früher bei dir gewesen. «
    Er klopfte neben sich auf die Kante des Diwans und bedeutete ihr, sich zu ihm zu setzen. » Wie sieht es draußen aus? «
    » Entsetzlich. «
    Er schwieg einen Moment, und sie überlegte, ob er weitere Einzelheiten hören wollte. Dann aber schüttelte er langsam den Kopf. » Die meisten Berichte, die wir bekommen, stammen von außerhalb der Mauern. Was aber gleich vor unserer Tür passiert, verheimlichen sie uns. «
    » Ich dachte, niemand dürfe die Tore passieren? «
    » Es gibt eine Hand voll Kundschafter, die Wege unter den Mauern hindurch kennen. Geheime Wege abseits der Tore. Die Hälfte davon sind Verbrecher, vermute ich, Schmuggler und so weiter. Abu Tahir hat sie angeheuert, und sie erweisen sich als recht ordentliche Späher. «
    » Heißt das, der Wesir kontrolliert, was von außerhalb der Mauern an eure Ohren gelangt? «
    Er lächelte. » Es ist gut, dass du so besorgt bist, aber glaube mir, er ist nicht unsere einzige Quelle. «
    » Ich hätte mit einem dieser Späher gehen können «, begann sie aufgeregt, » zu Ja ’ fars Haus und – «
    » Du glaubst, ich erlaube meiner einzigen Tochter, sich mit Mördern und Halsabschneidern in einer lichterloh brennenden Stadt herumzutreiben? «
    » Ist es wirklich so schlimm? «
    » Wahrscheinlich schlimmer, als wir alle es uns vorstellen können. Zwei Millionen Menschen, Libuse … Und wie viele haben davon wohl Unterschlupf in der Runden Stadt gefunden? «
    Sie wusste, dass der Eindruck der überfüllten Gassen täuschte, doch sie konnte die Zahl der Menschen nicht schätzen. Es mochten hunderttausend sein. Vielleicht auch fünfhunderttausend.
    » Keine fünfzigtausend «, sagte Corax. » Den vorsichtigen Schätzungen zufolge. «
    » Und ihr könnt nichts tun, um den Menschen dort draußen beizustehen? «
    » Es gibt natürlich Soldaten in den Vorstädten. Einige der größten Kasernen befinden sich am Ostufer des Tigris. « Er verstummte einen Augenblick lang, dann erst fuhr er fort.
    »

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