Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
wollte. Doch diese Gelegenheit würde vielleicht nie wiederkommen. Wenn sie mehr über ihre Mutter erfahren wollte, dann hier und jetzt. » Du hast gesagt, sie sei krank geworden … gleich nach meiner Geburt … Und sie – «
» Libuse! « Corax schien im Glanz des Feuers emporzuwachsen, noch größer, noch kraftvoller zu werden. » Geh hinaus! «
Sie ballte die Fäuste, hatte das Gefühl, platzen zu müssen vor Wut und Enttäuschung, und sie hasste ihn in diesem Augenblick, hasste ihn und die ganze Welt für ihre Ungerechtigkeit. Die Tränen liefen ihr heiß über die Wangen, sie schmeckte sie salzig im Mundwinkel. Sie spürte, dass sie kurz davor stand, etwas Furchtbares zu sagen, etwas, das sich nicht wieder gutmachen ließe. Lügner!, wollte sie ihn anbrüllen. Ein verlogener, verbitterter Säufer bist du! Ein Schwächling, der Angst im Dunklen hat und sich im Wald vor der Welt versteckt!
Doch dann fuhr sie doch nur mit einem Schluchzen herum und stürmte ins Freie, hinaus aus dem Turm, die Treppe hinunter, über die verschneite Lichtung zum Waldrand.
Tief, tief in die Wälder lief sie, spürte kaum die Zweige, die ihr ins Gesicht peitschten, fühlte auch nicht, wie die Träne n a uf ihren Wangen zu Eiskristallen wurden und splitterten, wenn sie mit der Hand darüber fuhr.
Irgendwann fand sie einen Baum, eine gewaltige, uralte Buche mit mächtigen Wurzeln wie Händen, die sie willkommen hießen. Hier ließ sie sich auf die Knie fallen und beschwor das Erdlicht herauf, badete in seinem lindernden Schein, kauerte sich zusammen wie ein Vogeljunges im Nest, geborgen in einer Wärme, die kein Mensch auf der Welt ihr je hätte schenken können.
DIE LUMINA
A d vin humpelte über den Schnee bis zum Glockenturm. Am Aufgang schaute er sich um und ging sicher, dass niemand ihn beobachtete. Ein Mönch balancierte drei schwere Folianten vom Skriptorium hinüber zum Haus des Abtes. Zwei andere verließen gerade das Refektorium, mit Eimern voller Essensreste für die Schweinetröge in den Ställen. Die Tür des Infirmariums stand offen, obwohl Aelvin recht sicher war, dass Odo sie zugeschlossen hatte, als er das Krankenquartier verließ. Stand Bruder Marius im Dunkeln hinter der Tür und blickte ihm hinterher?
Mit nachgezogenem Bein betrat Aelvin den Glockenturm und eilte, kaum außer Sichtweite, die Stufen im Inneren hinauf, auf wundersame Weise von seiner Verletzung geheilt. Bruder Marius wäre vielleicht stolz gewesen auf den Erfolg seiner Heilkünste. Oder aber erzürnt über den Betrug. Letzteres, vermutete Aelvin mit verstohlenem Grinsen.
Das Dach des Glockenturms ruhte auf vier gemauerten Säulen. Hier gab es keine Wände, und so war Schnee hereingeweht und bedeckte den Boden rundum. Der Wind pfiff schneidend kalt über die Brüstung. Von hier oben aus bot sich eine beeindruckende Aussicht über die Wälder, den felsigen Abgrund und das alte Aquädukt.
Das Mädchen hockte im Schnee unter der Glocke, dick vermummt in einem Fellüberwurf mit langer Kapuze, dere n d ünne Spitze bis zur Taille reichte. Den Rücken der Treppe und Aelvin zugewandt schien sie sich auf etwas zu konzentrieren, das sich vor ihr am Boden befand.
Aelvin trat leise ins Freie. Er wollte sie nicht erschrecken, und doch kam er nicht gegen seine Neugier an. Als Bruder Marius ihn heute Morgen aus dem Bett und zu einem Rundgang auf den Hof gescheucht hatte – angeblich, weil ein wenig Belastung eine gute Kur gegen den verletzten Knöchel sei –, da war Favola bereits fort gewesen. Ihr Lager hatte ausgesehen, als hätte nie jemand darin gelegen. Marius war wortkarg geblieben, als Aelvin nach ihr fragte, und das war sonst nun so gar nicht die Art des geschwätzigen Infirmarius. Ein Hinweis darauf, dass der Abt unmissverständliche Order in dieser Sache gegeben hatte.
Immerhin aber hatte Aelvin bald von anderen Mönchen erfahren, dass die Novizin auf den Glockenturm hinaufgestiegen sei. Ihr plötzliches Auftauchen in der Abtei sorgte naturgemäß für Getuschel und zahllose Fragen, die auch nach der Morgenandacht unbeantwortet geblieben waren. Offenbar hatte Abt Michael strikt befohlen, das Mädchen weder anzusprechen noch anzustarren.
Als Aelvin leise ins Freie trat, breitete Favola blitzschnell ihren Mantel aus. Mit einer Hand streifte sie die Kapuze zurück und blickte über die Schulter zu ihm herüber.
» Geh weg «, sagte sie.
Aelvin blieb stehen, gut vier Schritt von ihr entfernt. » Guten Morgen. Ich wollte dich nicht stören.
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