Das Büro
die Karte. In dieser Gier lag etwas, das Maarten beunruhigte, doch er unterdrückte das Gefühl ebenso wie seine Abscheu vor der allzu körperlichen Präsenz dieses fremden jungen Mannes so dicht neben sich. „Ja“, sagte er zögernd und blickte auf die Karte, „wie soll ich das jetzt erklären?“
„Heidi hat mir schon einiges darüber erzählt. Sie sollen Kulturgrenzen suchen, haben aber erst zwei gefunden.“
Maarten lachte. „Ja, aber das ist nur die eine Hälfte der Arbeit.“ Er blickte auf die Karte.
„Ist das hier eine solche Karte?“ Er beugte sich vor, mit den Händen auf seinen Knien, als wolle er die Karte in ihrer Gesamtheit in sich aufnehmen.
„Das ist eine Karte des Kornschrecks. Wenn Eltern ihren Kindern verbieten, im Korn zu spielen, drohen sie damit.“
„Und ist da auch eine Kulturgrenze drauf?“ Er suchte die Karte ab.
„Hier!“ Maarten zog die Karte zu sich heran und zeigte auf ein kleines Gebiet im äußersten Nordosten, wo ein und dasselbe Zeichen gleich mehrfach auftauchte. „Dort drohen sie mit der Roggenmutter, und das machen sie nirgendwo anders.“
„Sie haben also jetzt drei?“
„Ja“, er lachte, „aber darum geht es eigentlich nicht. Es geht darum, wie man es erklären soll.“ Er zögerte, es war das erste Mal, dass er jemandem begreiflich machen musste, was er tat, und es war ihm peinlich, so als gäbe er sich eine Blöße. „Es gibt die Theorie, wonach es sich bei dieser Roggenmutter ursprünglich um einen Korngeist gehandelt hat, der in die Kinderwelt hinabgesunken ist, und die Kritik daran lautet, dass es niemals mehr als ein Scherz gewesen sei, denEltern ihren Kindern gegenüber gemacht haben. Die Frage ist, wer Recht hat.“
„Und wer hat Recht?“ Ad Muller sah Maarten mit einem derart treuherzigen, ungeheuchelten Interesse an, dass Maarten den aufkommenden Gedanken, zum Narren gehalten zu werden, sofort wieder verwarf.
„Das weiß ich nicht. Ich fürchte, dass es sich nicht sagen lässt, aber es ist schon merkwürdig, denn auch wenn es sich um einen Scherz handelt, stellt sich die Frage, warum dieser Scherz ausschließlich dort vorkommt. Wenn man die Angaben auf eine Bodenkarte überträgt“ – er suchte zwischen seinen Papieren und zog die Skizze einer Bodenkarte darunter hervor, in die er außer den Bodentypen auch die Daten über die Roggenmutter eingezeichnet hatte – „sieht man nämlich, dass nur Eltern, die auf Sandboden leben, diesen Scherz machen, nicht aber Eltern, die im Moor wohnen, obwohl sie dort ebenfalls Roggen anbauen.“
„Komisch, nicht?“
„Ja, komisch“, sagte Maarten lachend.
„Und wie erklären Sie sich das jetzt?“ Er blickte ihn mit großen, naiven Augen an. Die Naivität, mit der der junge Mann ihn ansah, ließ Maartens aufkommenden Argwohn erneut schwinden. „Ich glaube …“ Er brach den Satz ab und fing von vorne an. „Auf alle Fälle kann die Roggenmutter nicht älter sein als der Roggen selbst, und der ist erst zu Beginn unserer Zeitrechnung hierhergekommen. Von diesem Zeitpunkt an kann also auf Sandboden Roggen angebaut worden sein. Im Moor war das erst ab dem fünfzehnten Jahrhundert möglich, als das Land dort allmählich trockengelegt wurde. Geht man nun davon aus, dass das Moor von Menschen urbar gemacht worden ist, die von anderswo herkamen, und geht man außerdem davon aus, dass die Roggenmutter auf dem Sandboden ihre Vitalität verloren hatte, so dass sie sich nicht mehr weiter verbreitete – beispielsweise, weil sie bereits in die Kinderwelt hinabgesunken war –, dann ist es möglich, dass es im Frühmittelalter ein Korngeist gewesen ist, aber beweisen lässt sich nichts.“
„Das ist also Ihre Schlussfolgerung?“
„Ja, mehr kann ich auch nicht daraus machen.“
„Ich glaube, dass ich dann doch lieber an diesem Karteisystem arbeite.“
„Das war auch der Grund, weshalb ich mit dem Karteisystem angefangen habe.“
„Ja?“, fragte der junge Mann erstaunt.
„Angefangen habe ich mit den Wichtelmännchen. In den Aufsätzen, die ich darüber las, verstand ich nichts – und ich verstehe noch immer nichts.“ Er lachte. „Ich habe noch nie einen Aufsatz über diese Dinge gelesen, von dem ich auch nur ein Wort verstehe. Und wenn ich etwas nicht verstehe, fange ich an, Karteikarten anzulegen, für später, in der Hoffnung, dass ich es dann doch irgendwann verstehe.“
„Ja?“ Er sah Maarten an, als ob er so etwas noch nie gehört hätte.
„Ja. Wenn der Minister hier hereinkäme
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