Das Chagrinleder (German Edition)
ich als Philosoph eine den Gesetzen der Natur so widersprechende Entscheidung erörtern kann. Im Vergleich zu anderen Vertreterinnen Ihres Geschlechts sind Sie ein Phänomen. Nun denn, suchen wir einmal gemeinsam unvoreingenommen die Ursache dieser psychologischen Anomalie. Lebt in Ihnen, wie in vielen Frauen, die auf sich stolz und in ihre Vollkommenheit verliebt sind, ein Gefühl von raffiniertem Egoismus, das Ihren Abscheu erregt bei dem Gedanken, einem Manne anzugehören, sich Ihres Willens zu entäußern und einer konventionellen Überlegenheit, die Sie verletzt, unterworfen zu werden? Mir würden Sie tausendmal schöner erscheinen! Oder wurden Sie von einer ersten Liebe schnöde enttäuscht? Vielleicht läßt Sie der Wert, den Sie der Eleganz Ihrer Taille, Ihrer entzückenden Büste beilegen, die Verunstaltungen der Mutterschaft befürchten: wäre dies am Ende einer Ihrer stärksten geheimen Gründe, daß Sie es ablehnen, zu sehr geliebt zu werden? Oder haben Sie Unvollkommenheiten zu verbergen, die Sie gegen Ihren Willen tugendhaft machen? Werden Sie nicht böse, ich erörtere nur das Problem, ich studiere, ich bin tausend Meilen von der Leidenschaft entfernt. Die Natur, die Blinde zur Welt kommen läßt, kann ebensogut Frauen hervorbringen, die in der Liebe stumm, taub und blind sind. Wahrhaftig, Sie sind ein kostbares Objekt für die medizinische Forschung! Sie wissen gar nicht, was Sie wert sind. Ihr Ekel vor den Männern mag im übrigen höchst berechtigt sein; ich pflichte Ihnen bei, sie erscheinen mir alle sehr häßlich und unangenehm. Sie haben recht«, schloß ich, da ich fühlte, daß mir das Herz schwoll. »Sie müssen uns verachten. Es gibt keinen Mann, der Ihrer würdig wäre!« Ich werde dir nicht alle sarkastischen Reden wiederholen, die ich ihr lachend herbetete. Indessen, das ätzendste Wort, die beißendste Ironie entlockten ihr weder eine Bewegung noch eine Gebärde des Unwillens. Sie hörte mir mit ihrem gewohnten Lächeln auf den Lippen und in den Augen zu, diesem Lächeln, das sie anlegte wie ein Kleidungsstück und das für ihre Freunde, ihre flüchtigen Bekannten und Fremde stets und ständig das gleiche war. – »Ist es nicht sehr gutmütig von mir, mich von Ihnen hier sezieren zu lassen?« sagte sie, einen Augenblick nutzend, in dem ich sie schweigend ansah. »Sie sehen«, fuhr sie lachend fort, »ich habe keine dummen Empfindlichkeiten in der Freundschaft. Viele Frauen würden Ihre Unverschämtheit strafen, indem sie Ihnen die Tür wiesen.« – »Sie können mich aus Ihrem Haus verbannen, ohne Rechenschaft für Ihre Strenge zu geben.« Während ich dies sagte, fühlte ich mich nahe daran, sie umzubringen, wenn sie mir den Abschied geben würde. – »Sie sind verrückt!« rief sie mit einem Lächeln. – »Haben Sie jemals daran gedacht«, fing ich wieder an, »welche Wirkung eine heftige Liebe haben könnte? Oft hat ein Mann aus Verzweiflung seine Geliebte umgebracht.« – »Besser tot als unglücklich« erwiderte sie kalt; »ein derart leidenschaftlicher Mann wird eines Tages seine Frau bettelarm im Stich lassen, nachdem er ihr Vermögen durchgebracht hat.« Diese Arithmetik machte mich sprachlos. Ein Abgrund tat sich zwischen mir und dieser Frau auf. Wir würden uns niemals verstehen können. »Adieu« sagte ich kühl. – »Adieu!« antwortete sie mit einem freundschaftlichen Nicken. »Auf morgen!« Ich sah sie mit einem Blick an, der ihr die ganze Liebe, der ich entsagte, vor sie hin schleuderte. Sie stand da und zeigte mir ihr banales Lächeln, das abscheuliche Lächeln einer Marmorstatue, das Liebe auszudrücken scheint und empfindungslos ist. Kannst du dir vorstellen, mein Lieber, welche Qualen in mir wüteten, als ich in Schnee und Regen über die eisglatten Quais eine Meile Wegs nach Hause ging, nachdem ich alles verloren hatte? Oh! zu wissen, daß sie an mein Elend nicht einmal dachte und mich reich wähnte wie sich und in einem weich gepolsterten Wagen sitzend! – Wie viele Trümmer, wie viele Enttäuschungen! Nicht um Geld handelte es sich mehr, sondern um alle Güter meiner Seele. Ich schritt aufs Geratewohl dahin, indem ich die Reden dieser seltsamen Unterhaltung hin und her drehte und mich so sehr in meinen Auslegungen verwickelte, daß ich schließlich an der wörtlichen Bedeutung der Worte und Begriffe zweifelte. Und ich liebte noch immer, liebte diese kalte Frau, deren Herz in jedem Augenblick neu erobert werden wollte, die an jedem Tage die Versprechungen des
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