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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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meine Beobachtungsgabe darein, den undurchdringlichen Charakter Fœdoras zu ergründen. Bis dahin hatten Hoffnung oder Verzweiflung meine Meinung beeinflußt, ich erblickte in ihr mal die liebevollste, mal die gefühlloseste Vertreterin ihres Geschlechts. Aber dieser Wechsel von Freude und Niedergeschlagenheit wurde unerträglich: ich wollte diesen fürchterlichen Kampf beenden, indem ich meine Liebe tötete. Unheilkündende Lichter blitzten oft in meiner Seele auf und wiesen mir die Abgründe, die zwischen uns klafften. Die Comtesse rechtfertigte alle meine Befürchtungen, noch nie hatte ich Tränen in ihren Augen gesehen; im Theater ließ eine rührende Szene sie kalt oder reizte ihren Spott. All ihre Klugheit diente nur ihrer eigenen Person; fremdes Glück oder Unglück nahm sie nicht wahr. Endlich sah ich ein, daß sie mich hinters Licht geführt hatte. Glücklich, ihr ein Opfer bringen zu können, hatte ich mich für sie beinahe erniedrigt, als ich meinen Verwandten, den Duc de Navarreins, aufsuchte, einen egoistischen Menschen, der sich meiner Notlage schämte und mir gegenüber zu sehr im Unrecht war, um mich nicht zu hassen. Er empfing mich mit jener kalten Höflichkeit, welche jedes Wort und jede Gebärde wie einen Schimpf erscheinen läßt; sein unsicherer Blick erregte mein Bedauern. Ich schämte mich für ihn seiner Kleinlichkeit in all dem Glanz, seiner Armseligkeit in all dem Überfluß. Er sprach mir von ansehnlichen Verlusten, die ihm die dreiprozentige Staatsrente verursachte; dann nannte ich ihm den Grund meines Besuchs. Die Veränderung in seinem Benehmen, das von Frostigkeit allmählich zu großer Liebenswürdigkeit überging, widerte mich an. Kurz und gut, mein Freund, er besuchte die Comtesse und stellte mich dort einfach kalt. Fœdora entfaltete für ihn einen ungeahnten Zauber; sie umstrickte ihn völlig, verhandelte mit ihm die mysteriöse Angelegenheit, ohne daß ich ein Wort davon erfuhr; ich war ihr nur Mittel zum Zweck gewesen! ... Sie schien mich nicht mehr zu bemerken, wenn mein Cousin bei ihr war; sie empfing mich dann vielleicht mit geringerer Freude als an dem Tag, da ich ihr vorgestellt worden war. Eines Abends demütigte sie mich vor dem Duc de Navarreins durch eine jener Gesten, einen jener Blicke, die man nicht in Worte fassen kann. Ich ging mit Tränen in den Augen fort; schmiedete tausend Rachepläne und erwog, ihr Gewalt anzutun. Oft begleitete ich sie in die Bouffons: dort, neben ihr, ganz meiner Liebe hingegeben, sah ich sie an und gab mich zugleich dem Zauber der Musik hin, ging auf in dem doppelten Genuß, zu lieben und die Regungen meines Herzens in den Melodien des Musikers wiederzufinden. Meine Leidenschaft war in der Luft, auf der Bühne, sie siegte überall, nur nicht bei meiner Geliebten. Ich ergriff dann wohl Fœdoras Hand, musterte forschend ihre Züge, ihre Augen, ersehnte ein Verschmelzen unserer Gefühle, eine jener unwillkürlichen Harmonien, die, von den Klängen erweckt, die Seelen vereint schwingen läßt; aber ihre Hand war stumm, und ihre Augen sagten nichts. Wenn das Feuer meines Herzens, das aus meinen Zügen strömte, ihr zu heiß ins Antlitz schlug, warf sie mir ein gesuchtes Lächeln zu, jenes unverbindliche Lächeln, das in den Salons auf den Lippen aller Porträts starrt. Sie lauschte der Musik nicht. Die göttlichen Weisen Rossinis, Cimarosas, [Fußnote: Cimarosa , Domenico (1749-1801): italienischer Opernkomponist] Zingarellis [Fußnote: Zingarelli , Nicola Antonio (1752-1837): neapolitanischer Opernkomponist] riefen kein Gefühl in ihr hervor, klangen nicht als Ausdruck eigenen Empfindens in ihr wider; ihre Seele war öde und leer. Fœdora stellte sich wie ein Schauspiel im Schauspiel dar. Ihre Lorgnette wanderte unaufhörlich von Loge zu Loge; voll innerer Unruhe, obgleich scheinbar ruhig, war sie ein Opfer der Mode: ihre Loge, ihr Hut, ihr Wagen, ihre Person waren ihr alles. Man begegnet zuweilen Menschen von riesenhaftem Körperbau, die in einer ehernen Brust ein weiches liebevolles Herz bergen; aber sie barg ein ehernes Herz unter ihrer zarten, anmutigen Hülle. Meine verhängnisvolle Menschenkenntnis riß viele Schleier von meinen Augen. Wenn der gute Ton darin besteht, sich selbst um des anderen willen zu vergessen, in Stimme und Gebärde eine ständige Sanftmut walten zu lassen, den anderen zu gefallen, indem man ihr Selbstbewußtsein befriedigt, so war es Fœdora trotz ihrer Klugheit nicht gelungen, jede Spur ihrer plebejischen Herkunft

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