Das Chagrinleder (German Edition)
Dachluke; in Wahrheit aber sagte ich meinen Dächern auf ewig Lebewohl, lebte bereits in der Zukunft, malte mir mein Leben aus, genoß im voraus die Liebe und deren Freuden. Oh, wie stürmisch kann das Leben zwischen den vier Wänden einer Mansarde werden! Die menschliche Seele ist eine Fee, sie verwandelt Stroh in Diamanten; unter ihrem Zauberstabe erstehen die Märchenschlösser wie die Blumen des Feldes unter dem warmen Hauch der Sonne. Am nächsten Tage um die Mittagsstunde klopfte Pauline leise an meine Tür und brachte mir – rate was? – einen Brief von Fœdora. Die Comtesse bat mich, sie im Luxembourg abzuholen und sie ins Museum und den Jardin des Plantes [Fußnote: Jardin des Plantes : 1640 eröffneter botanischer Garten von Paris] zu begleiten. »Der Bote wartet auf Antwort«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. Ich kritzelte eiligst einen Dankbrief, den Pauline mitnahm. Ich kleidete mich an. Im Augenblick, da ich recht zufrieden mit mir meine Toilette beendete, überlief es mich eiskalt bei dem Gedanken: Ist Fœdora zu Fuß oder im Wagen gekommen? Wird es regnen, wird es schön sein? Aber gleichviel, sagte ich mir, ob zu Fuß oder im Wagen, ist man jemals vor den phantastischen Launen einer Frau sicher? Sie wird kein Geld bei sich haben und einem kleinen Savoyarden 100 Sous geben wollen, weil er in seinen Lumpen so hübsch aussieht. Ich besaß keinen roten Heller und sollte erst am Abend Geld bekommen. Oh, wie teuer zahlt ein Dichter in jenen entscheidenen Augenblicken der Jugend seine geistige Überlegenheit, die er der Arbeit und seiner strengen Lebensweise verdankt! Im Nu schossen mir tausend schmerzhafte Gedanken wie spitze Pfeile durch den Kopf. Ich blickte durch mein Dachfenster zum Himmel. Das Wetter war sehr unsicher. Wenn es not täte, könnte ich allenfalls einen Wagen für den Tag mieten; aber würde ich nicht in meinem Glück jeden Augenblick zittern, Finot am Abend nicht anzutreffen? Ich fühlte mich nicht stark genug, so viele Ängste inmitten meiner Freuden auszuhalten. Obwohl ich gewiß war, nichts zu finden, unternahm ich eine ausgedehnte Suchaktion in meinem Zimmer, bis in die Tiefen meines Strohsacks hinab forschte ich nach nicht vorhandenen Talern, ich kehrte das Unterste zuoberst, schüttelte sogar die alten Stiefel aus. In fieberhafter Aufregung starrte ich auf meine Möbel, die ich allesamt durchstöbert hatte. Denke dir, wie ich außer mir geriet, als ich zum siebenten Male meine Schreibtischschublade mit der Beharrlichkeit, die uns die Verzweiflung eingibt, untersuche und, gegen ein Seitenbrett gelehnt, tückisch verkrochen, aber blank, glänzend, hell wie ein aufgehender Stern ein schönes edles 100-Sous-Stück entdeckte! Ohne von ihm Rechenschaft zu fordern ob seines Schweigens, noch ob der Grausamkeit, der es sich seines Katz-und-Maus-Spiels wegen schuldig gemacht hatte, küßte ich es wie einen Freund in der Not und begrüßte es mit einem lauten Ruf, der ein Echo fand. Ich drehte mich um und gewahrte Pauline, die ganz blaß war. »Ich habe geglaubt«, sagte sie mit bewegter Stimme, »daß Sie sich weh getan haben. Der Bote... « (sie hielt inne, als müsse sie nach Luft ringen), »meine Mutter hat ihn bezahlt«, sagte sie noch. Dann eilte sie hinaus, ein kindlich launischer Flattergeist. Arme Kleine! Ich wünschte ihr mein Glück. Im Augenblick schien es mir, als trüge ich alle Seligkeit der Erde in meinem Herzen, und ich hätte den Unglücklichen den Teil zurückerstatten mögen, den ich ihnen zu stehlen glaubte. Fast immer trifft ein Unglück, das wir vorausahnen, ein; die Comtesse hatte ihren Wagen weggeschickt. Aus einer jener Launen, die schönen Frauen meist selbst unerklärlich sind, wollte sie zu Fuß über die Boulevards zum Jardin des Plantes gehen. – ›Aber es wird regnen‹, wandte ich ein. Es gefiel ihr, mir zu widersprechen. Zufällig blieb es schön, solange wir im Luxembourg spazierengingen. Als wir den Park verließen, fielen aus einer dicken Wolke, deren Heraufziehen mich schon beunruhigt hatte, einige Regentropfen, und wir nahmen einen Wagen. Doch hörte der Regen auf, als wir auf den Boulevards angelangt waren; der Himmel heiterte sich auf. Vor dem Museum wollte ich den Wagen wegschicken; Fœdora bat mich jedoch, ihn zu behalten. Welche Qualen! Aber mit ihr zu plaudern, während ich einen geheimen Aberwitz unterdrückte, der sich auf meinem Gesicht wahrscheinlich in einem starren, albernen Lächeln spiegelte; durch den Jardin des Plantes zu
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