Das Chamäleon-Korps
struppiger Siebenjähriger riß den Memokasten aus der Maschine und warf ihn die grasbewachsene Steigung hinunter. „Dreyfus-Affäre“, murmelte das Sprechgitter, das mit blitzenden Kupferkabeln an die Memobank angeschlossen war, „Erdsystem, 1894-1906. Im Jahre 1894 wurde aufgrund von fadenscheinigen Beweisstücken … Emile Zola, der mit seinem offenen Brief J’accuse! … ein nichtjüdischer Offizier namens Esterhazy und … Drift. Geologischer Allgemeinbegriff für Oberflächenablagerungen … Dromedar, siehe Kamel …“ Der tellergroße Memokasten rollte zwischen Jolsons Beine, wo er liegenblieb und aufhörte, Informationen abzuspulen.
Jolson zog seine Tuchmütze vom Kopf und wischte sich damit die Stirn. Er war jetzt Tunky Nesper, ein drahtiger, wettergegerbter Mann von etwa fünfzig Jahren. Er hatte strahlend blaue Augen, ein kantiges, knochiges Gesicht und schütteres rotes Kraushaar. Seine Kleider waren alt und abgetragen – Arbeitskleidung von einem anderen Planeten und aus einem anderen Jahrzehnt. Auf seinen Rücken hatte er die zwölfsaitige Metallgitarre geschnallt. Jolson stand inmitten von hochgewachsenen Pinienbäumen und beobachtete die Schulkinder. Er befand sich fünf Meilen innerhalb des Gebiets, in dem Außenbezirke des Stadtzentrums Nr. 1 geplant waren, und um ihn herum gab es grasbewachsene Hügel und ruhige Felder.
Das linke Knie des Unterrichtsroboters segelte herab und fiel scheppernd auf Jolsons Kopf. Er schwankte leicht.
„Bobby, du kannst dich ja gern amüsieren“, sagte eine angenehme, mütterliche junge Stimme warnend, „aber denk mal nach. Du willst doch wohl nicht irgendwelchen Tramps Gehirnerschütterungen verpassen, oder?“
„Was?“ fragte der blonde Junge, der gerade an den Vinylfingern der zerstörten Maschine herumkaute.
Jolson rückte seine Arbeitsmütze wieder zurecht und kletterte nach oben. „Ist meine eigene Schuld, Ma’am, wenn ich mich von meiner Neugier herumführen lasse, als ob ich ein störrisches Maulpferd wäre und die Neugier ein Ring in meiner Nase.“
Jetzt stand eine hübsche, dunkle junge Frau in einem kurzen Unterrichtskittel zwischen dem halben Dutzend Kindern. Auf einer ihrer sonnengebräunten Wangen hatte sie einen Fleck, der aus dem olivfarbenen Schmieröl der Maschine bestand. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte sie Jolson.
„Na ja“, antwortete er in seiner langsamen, etwas gedehnten Tunky Nesper-Sprechweise, „wenn man genug im Leben erlebt, Ma’am, dann macht einem ab und zu ein Schlag auf den Kopf auch nicht allzuviel aus.“
„Das ist aber interessant!“ Die nette junge Frau fragte den Kreis von Kindern: „Kann mir einer von euch sagen, welche Gemeinsamkeiten es zwischen der Weltanschauung dieses schäbigen Tramps und der eines Zen-Meisters gibt?“
Bobby nahm den Daumen des Roboters und zeigte damit auf ein achtjähriges Mädchen. „Zen war ihr Projekt.“
„Du wolltest ihn aber auch studieren“, sagte das kleine Mädchen. „Du dummes Langohr!“
„Nenn mich bloß nicht Langohr, du schielender Maulaffe!“ Bobby grapschte eine Handvoll Drähte und Bolzen aus dem Kadaver des Roboters und warf sie dem Mädchen ins sommersprossige Gesicht.
„Ich schiele nicht, du Fettsack!“
Die junge Frau lächelte über die Köpfe der Kinder hin weg. „Vielleicht könnten Sie unseren Kindern hier in der NS 26 etwas erzählen. Wie das ist, ein gesellschaftlich Ausgestoßener zu sein. Das wäre doch nett, nicht?“
„Furz!“ sagte Bobby, „du steckst voll von Fürzen, Ethel Marie.“
„Selber, Bobby! Und Plattfüße hast du auch!“
Jolson kratzte sich an seinen Rippen. „Ma’am, ich bin nirgendwo ausgestoßen. Nicht mehr als der Wind, der ist ja auch kein Perverser, nur weil er nicht nur an einem Ort weht. Was heißt denn NS 26?“
„Was Sie gerade gesagt haben, ist sehr tiefsinnig. Sie sind wohl so was wie ein Volksdichter“, sagte die junge Frau. „Nicht wahr, Kinder?“
„Er steckt voll von Fürzen“, sagte Bobby. „Und du auch. Und dein dämlicher Mann. Und Mr. Ruric. Und alle im Stadtzentrum Nr. 1. Außer meiner schönen Mutter.“
„NS 26“, sagte die Lehrerin zu Jolson, „heißt Nicht-Schule 26. Oberflächlich betrachtet ähneln wir ein bißchen einer gewöhnlichen Schule, aber tatsächlich sind wir eher ein Lernabenteuer. Eine kreative Erfahrung, die sorgfältig an die ersten Jahre des Lebenszyklus angepaßt ist.“
„Wir stecken voller Fürze“, sagte Bobby.
„Wer, zum Teufel, sind Sie
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