Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
uns. Er ist uns stets treu geblieben und will noch immer seine Geschichte mit uns fortsetzen. Er wartet nur darauf, dass wir umkehren und seinen Willen tun, denn er liebt sein Volk seit ewigen Zeiten und wird es ewig weiterlieben. Und sie beschwören Gottes Liebe, seine Zuneigung, seine unverbrüchliche Treue: Wie könnte ich dich hergeben, Ephraim, wie könnte ich dich preisgeben, Israel? … Mein Herz sträubt sich dagegen, mein ganzes Mitleid ist erregt! (Hosea 11, 8)
Und noch zarter formulieren sie: Wie ein verlassnes, tiefbetrübtes Weib ruft dich der Herr zurück. Ein Weib der Jugendliebe, kann es denn verworfen werden? Nur einen kleinen Augenblick verließ ich dich; mit starker Liebe hole ich dich wieder ein. In großem Zorn verbarg ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir. Ich hege nunmehr dich mit ewiger Zärtlichkeit. (Jesaja 54, 6–8)
Liebe und Wut, Zuwendung und Abwendung, Zärtlichkeit und Zorn – nach diesem Schema wird nun im Exil die Geschichte eines Volkes mit seinem Gott durchkomponiert. Das Exil und die sich daran anschließende Rückkehr aus dem Exil werden zur produktivsten Phase in der Geschichte der jüdischen Religion. In der Katastrophe des Untergangs kommt es zu einer Neugeburt des Volkes und zu einem neuen Bild von Gott.
Jeremia, Jesaja, die ganze Reihe der Propheten erzählen diese Geschichte weiter, und das Volk findet darin den Sinn seiner Existenz. Ohne König, ohne Staat, ohne Land und ohne Tempel bleiben sie doch ein Volk, denn sie haben Gott und dessen Gesetz, die Thora. Die Thora wird den Juden zur transportablen Heimat und zur sinn- und identitätsstiftenden Instanz, wohin immer das Schicksal sie gerade verschlagen hat.
Ein halbes Jahrhundert nach der Zerstörung des Tempels ändert sich die weltpolitische Lage abermals. Ein neues Reich steigt auf, Persien, und erobert Babylon. Der persische König Kyros «erbt» die jüdischen Exilanten, benötigt diese nicht in Babel und lässt sie in ihre Heimat zurückkehren, erlaubt ihnen überdies, den Tempel wieder aufzubauen. Kyros’ Nachfolger Darius stellt angeblich sogar Geld aus der Staatskasse zur Verfügung.
Den persischen Königen steht der Sinn nach Eroberungen. Dafür brauchen sie loyale Untertanen und Ruhe und Frieden im Innern. Wahrscheinlich deshalb verhalten sie sich gegenüber den Juden so großzügig. Im Jahr 516 steht in Jerusalem der zweite Tempel. Unter den toleranten Persern wird das ehemalige Königreich Juda zu einer selbstverwalteten Provinz unter dem Namen Jehud – und seine Bewohner heißen Jehudim, Juden.
Natürlich gibt es Probleme. Die Zurückgebliebenen und die Heimkehrer haben sich auseinanderentwickelt, Konflikte bleiben nicht aus. Teile des Volkes verfallen auch wieder in alte Gewohnheiten. Sie gehen erneut Mischehen ein, und mit den fremden Partnern kehren die alten Götter zurück, bis zwei einflussreiche Gestalten auftauchen und das Volk wieder auf Kurs bringen: Esra und Nehemia.
Um das Jahr 458 schickt der persische König einen im Exil gebliebenen jüdischen Priester namens Esra nach Judäa, stattet ihn mit richterlicher Gewalt aus und erlaubt ihm, weitere ausreisewillige Exilanten mitzunehmen. Esra setzt durch, dass keine Mischehen mehr eingegangen, die Gesetze eingehalten und dem ganzen Volk die alten Texte vorgelesen werden.
Um das Jahr 445 ernennt der persische König seinen Mundschenk Nehemia zum Statthalter in Jerusalem. Nehemia baut Jerusalem weiter auf und versieht die Stadt mit einer Schutzmauer, aber vor allem verhilft er der jüdischen Sozialordnung zu neuer Geltung. Er prangert jene an, die Zinsen nehmen, sorgt dafür, dass den Armen ihr Land zurückgegeben wird und überwacht das Verbot der Mischehen.
Vordergründig sieht es so aus, als ob die Rückkehrer aus dem Exil wieder an die Zeit vor der Zerstörung des Tempels anknüpfen. Tatsächlich aber haben das nachexilische Volk und sein Glaube einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht. Vor dem Exil haben sie zwar die Wende zur Alleinverehrung ihres Gottes vollzogen, aber da war ihnen das Entscheidende noch nicht klar. Vor dem Exil dachten sie: Der Untergang Israels war die Strafe für dessen Vielgötterei. Darum beten wir jetzt nur noch zu unserem Gott, dann werden wir dem Schicksal Israels entgehen. Das war offensichtlich falsch. Auch Juda ging unter.
Diese Katastrophe war wohl die notwendige Bedingung für den radikal neuen Gedanken, auf den das Volk dann nach dem Exil, vielleicht auch schon während des Exils gekommen sein
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