Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
verabschieden sich von der Despotenherrschaft und probieren es erstmals in der Geschichte mit Demokratie. Aber in Griechenland ist es eine Demokratie der freien Herren, die auf der Voraussetzung der Sklaverei beruht. In Israel gibt es keine Sklaven mehr. Schärfer noch: Nicht einmal mehr Arme und Unterdrückte darf es geben, und das steht in jenem Gesetz, das Mose von Gott selbst auf dem Sinai erhalten hat. Auf diesem göttlichen Gesetz gründet jener Bund, den Gott unter Donner, Rauch und Blitz und einem vulkanischen Beben mit seinem Volk in der Wüste geschlossen hat.
Vollendet und auch beachtet wird dieses Gesetz aber erst nach zwei Katastrophen, dem Untergang Israels und dem Untergang Judas. Danach existieren die Juden ohne eigenen Staat an zwei verschiedenen Orten in der Welt: In einem «Zuhause», das ihnen nicht mehr gehört, und in der Fremde. «Zuhause», in der angestammten Heimat um den Tempel in Jerusalem, geraten sie im Lauf der weiteren Jahrhunderte unter wechselnde Fremdherrschaften, die ihnen mal mehr und mal weniger Freiheit und Autonomie gewähren. Draußen, in der Diaspora, in Ägypten, im Persischen Reich, später auch im hellenistischen Reich Alexanders des Großen und schließlich im Römischen Reich bilden sie kleine Gemeinden, arrangieren sich mit ihren jeweiligen Gastländern und leben dort, soweit das jeweilige Gastland es zulässt, als Parallelgesellschaft.
Auf diese Weise gelingt dem kleinen Volk das Wunder, sich durch die Jahrhunderte seine Identität zu bewahren. Es gelingt, weil sich seine Mitglieder um die zwei verbliebenen «Sinnmitten» scharen: den Tempel und die Thora. Letztere wird um das Jahr 400 zum Abschluss gebracht. Danach entstehen noch das Buch Hiob, die Chronik, das Zwölfprophetenbuch, die Bücher Esra, Nehemia, Tobit und Ester sowie der Psalter, Hoheslied, Sprüche, Weisheit und das Buch Daniel. 15 Geschlossen wird der jüdische Kanon erst um 100 nach Christus, aber die für die Juden zentral wichtigen Texte bestehen seit ungefähr der Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Diese Texte werden eifrig studiert. Das Volk lebt aus der Schrift.
Aber auch der Tempel spielt eine herausragende Rolle, nicht nur für die Juden in Jehud (auch Judäa genannt), sondern ebenso für die Juden in der Diaspora. Beide Teile des Volkes bringen das Geld auf für den Unterhalt des Tempels, die Opfer und die Bezahlung der Priester. An Festtagen wallfahren regelmäßig Mitglieder aus der Diaspora nach Jerusalem, um dort gemeinsam mit den anderen zu feiern. Die Priester übernehmen auch halbstaatliche, politische Funktionen für die Verwaltung der Provinz und in der Rechtsprechung.
Diese zweigeteilte Tempelgemeinde existiert bis zum Jahr 70 nach Christus, dem Jahr, in dem der Tempel zerstört wird. Bewaffnete jüdische Freischärler, die sich von der römischen Fremdherrschaft befreien wollen und überzeugt sind, dass ihr Gott ihnen zu Hilfe kommen werde, liefern sich schon seit Jahren Gefechte mit den Römern, fügen diesen auch empfindliche Verluste zu, sodass sich Kaiser Nero genötigt sieht, seine Truppen in der Unruheprovinz zu verstärken. Er betraut Vespasian mit dem Kommando, der nach Neros Selbstmord Kaiser wird und nun seinen Sohn Titus nach Judäa schickt, um dort den Aufständischen zu zeigen, wer Herr ist im Haus.
Mit vier Legionen belagert Titus Jerusalem von April bis August des Jahres 70. Im September rückt er ein, brennt fast die gesamte Stadt nieder, zerstört den Tempel, macht dem Widerstand der Rebellen ein Ende. Beim Triumphzug durch Rom stellt Titus den aus dem Tempel geraubten siebenarmigen Leuchter zur Schau. Die Tempelsteuer, welche die Juden aus aller Welt nach Jerusalem geschickt hatten, fließt jetzt nach Rom und wird für den Kult des Jupiter Capitolinus verwendet.
Eine der beiden Sinnmitten des Volkes Gottes ist für immer dahin. Einen dritten Tempel wird es nicht mehr geben. Das Volk Gottes hat jetzt nur noch seine Thora-Rollen, die Schrift.
Obwohl der Verlust des Tempels als katastrophal empfunden wird, stellt sich im weiteren Verlauf der Geschichte heraus: Es geht auch ohne. Die Juden brauchen den Tempel gar nicht. Die Schrift genügt. Es ist, als ob Gott seinem Volk zeigen möchte: Je gläubiger ihr mir vertraut, desto weniger braucht ihr zum Überleben.
Die davongekommenen Freischärler des Jahres 70 geben sich nicht geschlagen, gehen in den Untergrund, rekrutieren im Lauf der Zeit neue Anhänger und Mitkämpfer, führen einen über
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