Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
kulturelle Gedächtnis der christlichen Welt eingegraben, dass jedes neugeborene Kind in seinen Genen schon eine Art Vorwissen mitbringt, das wie eine Immunisierung gegen das Schockerlebnis wirkt.
Die gesamte westliche Kunst, die Literatur und die Geistesgeschichte haben in der Botschaft vom Kreuz ihre Wurzeln, wobei diese natürlich auch in griechischem und jüdischem Boden gründen. Wer in so eine Kultur hineingeboren wird, atmet deren Luft, saugt die Essenz dieser Kultur mit der Muttermilch ein, und selbst wenn er kognitiv von Jesus gar nichts weiß, weiß er auf geheimnisvoll unbewusste Art doch etwas von ihm und kommt daher nicht auf die Idee, Anstoß zu nehmen an einem Glauben, der doch seinem innersten Wesen nach ungeheuer anstößig ist. Daher besteht das westliche Gefühl, mit diesem Jesus – trotz weit verbreiteter fataler Unwissenheit – vertraut zu sein, auf eine seltsam vertrackte Weise zu Recht, und eben wegen dieser seltsamen Vertrautheit verfehlen wir immerzu, was Jesus und den mit ihm verbundenen Glauben eigentlich ausmacht.
Jedem natürlich empfindenden Menschen widerstrebt es zutiefst, eine Religion anzunehmen, deren Kult sich um die Ikone eines blutigen, am Kreuz hängenden Toten herum aufbaut. Jeder natürlich empfindende Mensch erwartet von einer Religion Leben, Schönheit, Kraft und Glück. Die christliche Religion wartet mit dem Gegenteil auf. Aber wir sind nicht schockiert. Wir halten das Christentum für eine Religion wie jede andere, obwohl der christliche Glaube doch eigentlich das Gegenteil einer Religion ist.
Erst, wenn man verstanden hat, dass sich dieser Glaube allen Erwartungen, die man natürlicherweise an eine Religion heranträgt, schroff verweigert, und erst, wenn man versucht, das durch kulturelle Prägung ausgebliebene Schockerlebnis angesichts des Gekreuzigten nachzuholen, indem man sich bewusst macht, wie widernatürlich, ja geradezu «abartig» der Kern des christlichen Glaubens eigentlich ist, erst dann erhascht man einen Zipfel der abgründigen Lehre dieses Glaubens, und erst dann verschafft man sich die Möglichkeit der Ahnung: Es könnte die Wahrheit sein.
Aber welche Wahrheit? Worin eigentlich besteht sie, die spezifisch christliche Wahrheit?
Die Frage ist hier natürlich nicht erschöpfend und nicht auf einmal zu beantworten. Man kann sich ihr nur schrittweise nähern, und im Verlauf dieser Annäherung wird sich herausstellen, dass wahrscheinlich nicht einmal Jesus selbst die ganze Wahrheit bekannt war. Und weiter wird sich herausstellen: Die ganze Wahrheit bleibt uns verschlossen, denn erstens ist sie zu groß für uns, und zweitens ist sie nichts Statisches, sondern etwas dynamisch sich Entwickelndes. Sie ist noch immer unterwegs zu uns. Aber das, was sich da entwickelt, sich oft genug auch verirrt, verrennt, ins Gegenteil verkehrt, beruht auf ein paar wenigen Kerngedanken, die durch alle Zeiten ihre Gültigkeit behalten. Und nur diesen Essentials wollen wir uns in diesem Buch nähern.
Der Annäherungsversuch soll im Jahr 63 vor Christus beginnen. In jenem Jahr marschieren in Judäa die Römer ein und beenden eine wenige Jahrzehnte dauernde Episode, während der die Juden einmal nicht unter fremder Herrschaft lebten, sondern vom königlichen und hohepriesterlichen Geschlecht der Hasmonäer regiert wurden. Mit dem Jahr 63 kehrt wieder der sattsam bekannte Normalzustand ein in Judäa: Leben unter fremder Herrschaft, diesmal unter römischer.
Die Juden fragen jetzt allerdings nicht mehr: Wodurch haben wir das verursacht, wofür werden wir von Gott bestraft? Denn ihr Glaube, die Theologie und das Gottesbild haben sich weiterentwickelt. Die einfache Mechanik – wenn wir tun, was Gott gefällt, geht es uns gut, und wenn wir tun, was Gott missfällt, geht es uns schlecht – ist einem realistischeren Gottesbild gewichen, wie es bereits im Buch Hiob aus dem vierten Jahrhundert vor Christus vorgezeichnet war. Dort widerspricht Hiob der einfachen These, dass Gott gute Werke belohne und schlechte bestrafe, und argumentiert:
Warum leben denn die Gottlosen, werden alt, groß und stark? … Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Furcht; die Rute Gottes schlägt sie nicht. … Sie verbringen in Wohlfahrt ihre Tage … und doch sprechen sie zu Gott: Hebe dich weg von uns; der Erkenntnis deiner Wege fragen wir nichts nach! Was sollten wir dem Allmächtigen dienen, und was nützt es uns, ihn anzurufen? Der eine stirbt im Vollbesitz seines Glücks, vollkommen ruhig und
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