Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
sorglos; seine Tröge fließen über von Milch, und das Mark seiner Gebeine wird getränkt. Der andere aber stirbt mit betrübter Seele und hat nie Gutes geschmeckt: Gemeinsam liegen sie im Staube, und Gewürm bedeckt sie beide. (Hiob 21, 7–23)
Gott, mit dem Israel auf so vertrautem Fuße lebte, ist dem Volk wieder ein bisschen fremder und rätselhafter geworden, die Wahrheit seines Gottesbildes aber hat sich vertieft. Israel weiß jetzt: Von Gott kommt nicht nur die Strafe für Schuld und Vergehen und der Lohn für Gehorsam gegen Gott, von ihm kommt auch das unverdiente Glück für die Gottlosen, das grundlose Unglück für die Gerechten, ja sogar das Böse kommt von Gott.
Und: Glaube rechnet sich nicht. Zu glauben, man könne den göttlichen Willen beeinflussen durch Opfergaben, Wallfahrten, Prozessionen, Gebete, Beachtung aller religiösen Vorschriften oder durch gute Werke und ein Gott wohlgefälliges Leben, ist Aberglaube, Götzendienst. Was wahrer und reifer Glaube ist, wird uns in Hiob vorgeführt: Ihm zerbrechen alle Glaubensgewissheiten, er verliert seine liebsten Menschen, seine materielle Lebensgrundlage wird ihm entzogen, und im größten Leid hält er dennoch grundlos an diesem Gott fest und vertraut darauf, dass alles, was geschieht, letztlich im Einklang mit Gottes Willen geschieht und das scheinbar Sinnlose einen für den Menschen verborgenen Sinn hat.
Wahrer Glaube versucht nicht, Gott für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, sondern sich von Gott für dessen Zwecke instrumentalisieren zu lassen. Der wahrhaft Gläubige versucht nicht, Gott zu dienen, um damit seinem persönlichen Glück auf die Sprünge zu helfen oder seine Familie zu beschützen, und auch nicht, um sich eine Planstelle im Himmel zu sichern; der wahrhaft Gläubige glaubt allein, weil er eine Wahrheit erkannt hat, die persönlichkeitsverwandelnde Wahrheit Gottes. Alles andere folgt wie von selbst aus dieser Verwandlung.
Aber nur wenigen ist solch ein Glaube möglich. Zu tief steckt jedem Menschen noch die natürliche Religion in den Knochen, die Religion als Mittel der Kontingenzbewältigung und Schicksalsbeherrschung. Auch bei den Juden des letzten vorchristlichen Jahrhunderts vermischt sich die natürliche Religion mit der Aufklärung über den wahren Gott. Dieser wahre Gott ist ein Gott der Freiheit, das haben die Juden richtig erkannt. Aber warum befreit dieser Gott dann nicht endlich sein Volk von den ewig wechselnden Tyrannen fremder Völker?
Das ist die große Frage, an der sich die Juden umso leidenschaftlicher abarbeiten, je länger die Fremdherrschaft dauert und je häufiger die Tyrannen wechseln. Unter den Römern steuert diese Auseinandersetzung auf einen Siedepunkt zu. Für viele Juden bedeuten die Römer so etwas wie jenen Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Unter den Ägyptern gelitten, von den Assyrern erobert und verschleppt, von den Babyloniern überfallen und verschleppt, unter persische Herrschaft geraten, unter griechische und jetzt unter römische – hört dieses Kujoniertwerden von fremden Mächten denn niemals auf?
Wenn wir nicht selbst etwas dagegen unternehmen, wird es nicht aufhören, sagen Teile der jüdischen Bevölkerung. Sie sind rebellisch geworden. Sie wehren sich, gehen in den Untergrund, machen den Besatzern das Leben schwer. Aus ihnen gehen später die Zeloten hervor, die immer wieder Aufstände gegen die Römer anzetteln, welche immer wieder blutig niedergeschlagen werden. Womit die römische Weltmacht den Juden demonstriert: Ihr habt keine Chance gegen uns, also fügt euch. Und die Juden fragen sich: Soll das denn unser Schicksal für alle Zeiten sein?
In jenen Jahrzehnten wird in Judäa eine neue, relativ junge, aus dem Jahr 150 vor Christus stammende Schrift sehr aufmerksam gelesen: das Buch Daniel. Diese Schrift nimmt die in den Büchern Jeremia, Jesaja und Hesekiel enthaltenen Messias- und Endzeitprophezeiungen auf, steigert sie und gibt ihnen eine apokalyptische Wende. Die Juden rechnen seitdem zunehmend – und viele geradezu ungeduldig – damit, dass ein Weltenrichter vom Himmel steigt, dem Treiben der Völker ein Ende macht, die Gewaltgeschichte der Welt stoppt und den ganzen Kosmos verwandelt.
Die Beschreibungen, wann das sein und wie es dabei im Einzelnen zugehen wird, sind vage und widersprüchlich. Daher entwickeln sich unter den Juden nun sehr verschiedene Endzeit-, Weltgerichts- und Messiaserwartungen. Aber je länger die Römer herrschen, desto mehr
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