Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Natürlich erinnert die Zahl zwölf an die zwölf Gründerstämme Israels. Jesus tritt also mit einem politischen, die Geschichte, das Judentum verändern wollenden Anspruch auf. Aber er agiert nicht als Volkstribun, der durch Rhetorik und Agitation die Masse auf seine Seite zu ziehen versucht und diese zu einem Volksaufstand anstachelt. Vielmehr intimisiert er die Gottesvolk-Idee, setzt mit seinen zwölf Jüngern einen kleinen Anfang, der aber schon einen Anspruch aufs Ganze birgt. Und damit drückt er unausgesprochen aus, wie sich nach seiner Vorstellung die Welt verändern soll: nicht durch Politik, Parteitage, Programme oder Machtkämpfe, sondern durch das gemeinsame Leben einer anfänglich kleinen Lerngemeinschaft, die organisch wächst, das Gelernte bewahrt, weitergibt, durch das gemeinsame Unterwegssein ständig dazulernt, sich dadurch immer wieder selber korrigiert und heilsam auf ihre Umgebung ausstrahlt.
So zumindest war es gedacht. Dass es später nicht so kommt, steht auf einem anderen Blatt. Das wird noch zu besprechen sein, aber man darf darüber nie vergessen, dass die Kirche, das Christentum und alles, was sich daraus entwickelt hat, trotz aller Verfehlungen, die folgten, die Erinnerung an diese Anfänge durch all die Jahrhunderte wach gehalten hat allein dadurch, dass die diese Erinnerung bergenden Texte regelmäßig gelesen werden mussten und müssen bis auf den heutigen Tag.
Es geht eine große Freiheit aus von dem jesuanischen Modell der Weltveränderung, denn es baut ganz auf Freiwilligkeit, verzichtet auf jegliche Machtausübung und auf Gewalt, Lüge, Manipulation und Verschleierung. Es setzt mit viel Zuversicht große Hoffnung in den Menschen, vertraut ganz auf ihn, auf seine Einsicht, seine Vernunft, seinen guten Willen und auf seine Bereitschaft zur Umkehr.
Aber diesen Menschen, auf den Jesus da setzt, gibt es nicht von Natur aus, das weiß Jesus auch selbst. Eben deshalb braucht es die kleine Lerngemeinschaft. Eben deshalb teilt er sein Leben mit seinen Jüngern. Mit ihnen zieht er jetzt durch Galiläa, predigt, lehrt, heilt Kranke, stillt den Sturm, geht auf dem Wasser, verwandelt Wasser in Wein, treibt Dämonen aus, sättigt fünftausend Männer samt ihren Frauen und Kindern mit fünf Broten und zwei Fischen, und er weckt Tote auf.
Er geht keiner geregelten Arbeit nach, lässt sich in die Häuser seiner Anhänger einladen, isst gerne, trinkt gerne, sucht die Gesellschaft derer, die im Volk geringes Ansehen genießen, Frauen, Zöllner, Ehebrecher, Sünder, Kinder. Er setzt sich über Kult- und Reinheitsvorschriften hinweg, vertreibt die Geldwechsler aus dem Vorhof des Tempels, vergibt Sünden, spricht unangenehme Wahrheiten aus, beruft sich dabei auch auf die alten Lehren, aber legt sie neu aus, vereinfacht sie, radikalisiert sie, spitzt sie zu.
Etwas bahnbrechend Neues hat Jesus trotzdem nicht gewollt. Eigentlich will er nur, wie schon alle Propheten vor ihm und zuletzt Johannes, sein Volk neu versammeln und es an den ursprünglichen und noch immer nicht erfüllten Auftrag Gottes erinnern. Die Vorstellung, dass sich dieses Volk als Gesamtheit jemals dazu verstehen würde, Gottes Plan zu realisieren, hat Jesus offenbar aufgegeben. Wie Johannes denkt auch Jesus: Das bloße Merkmal, Jude zu sein, bietet keine Gewähr dafür, dass sich dieser Jude auch von Gott als Werkzeug in Dienst nehmen lässt. Vielmehr fordert er, dass sich nun jeder Einzelne bewusst für den Dienst Gottes entscheidet.
Daher zieht der ungefähr dreißigjährige Jesus im Land umher und versucht Menschen zu sammeln, die aus freien Stücken ins Werk zu setzen beginnen, was eigentlich seit dem Auszug aus Ägypten längst hätte erledigt sein sollen, den Aufbau einer Kontrastgesellschaft. Jesus sucht Freiwillige. Und er sucht sie ausschließlich unter Juden, denn die allein wissen, wovon er redet. Die Heiden, die noch nie von Abraham, Mose und den Propheten gehört haben, würden Jesus’ Botschaft ja gar nicht verstehen.
Obwohl er kein Theologe ist, kein Priester, kein Schriftgelehrter und kein Angehöriger der Oberschicht, predigt er in den Synagogen galiläischer Städte, aber oft auch im Freien, auf einem Berg, am Ufer des Sees Genezareth oder auch in Privathäusern. Und er, der Laie, spricht offenbar besser, verständlicher, wortmächtiger und aufregender als die Profis. Seine Zuhörer erstaunten über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten (Markus 1, 22).
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