Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Jünger.
Das signalisiert: Es geht hier nicht um die Gründung einer weiteren Schule, nicht um die 1001. Variante des traditionellen Schemas der Thora-Auslegung, sondern um den Ausbruch aus dem Schema, oder deutlicher: um Umsturz. Die üblichen Rangordnungen gelten nicht mehr.
Dieser in der Tischgemeinschaft aufscheinende Umsturz einer scheinbar natürlichen Ordnung fasziniert das niedere Volk, die Frauen, die Knechte und alle, die wenig Ansehen genießen, und wird später im ganzen Römischen Reich die Sklaven und Frauen und das einfache Volk faszinieren. Das erklärt, warum die junge Kirche die Erinnerung an das letzte Abendmahl vor Jesu Tod so intensiv gepflegt, immer mehr ins Zentrum ihrer kultischen Handlungen gerückt und dieses Mahl schließlich in den Rang eines Sakramentes erhoben hat. Es versinnbildlicht die klassenlose Gesellschaft, den einen Leib, der aus vielen Gliedern mit unterschiedlichen Begabungen, aber gleichem Wert besteht. Es symbolisiert das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen. Aus der Abendmahlsgemeinschaft, die sich um den Tisch des Herrn versammelt, wächst eine friedliche Revolution.
Das sagt sich so leicht. Aber nähme die Christenheit das Abendmahl beziehungsweise die Eucharistie so ernst, wie es einmal gemeint war und wie es von den Urchristen praktiziert wurde, würde sie entweder verzweifeln oder die Welt umstürzen, denn jedes Abendmahl stellt an die Beteiligten das unerhörte Ansinnen, Jesus nachzufolgen und ihr Leben mit den Schwachen und Randständigen zu teilen, mit Aussätzigen, Bettlern und Ausgestoßenen, aber auch mit sogenannten Kapitalisten, Heuschrecken oder etwa Neonazis.
Das Mitglied des Opus Dei soll den Theologen der Befreiung vorbehaltlos annehmen, dieser den reaktionären Evangelikalen, dieser den homosexuellen Liberalen, dieser den islamischen Ayatollah. Das Abendmahl ist die regelmäßig wiederholte Aufforderung an jeden Christen, sich von den Beschränkungen seiner Herkunft frei zu machen, seine Vorurteile gegen andere zu überwinden, seine Berührungsängste abzubauen, alles dranzugeben, was einem bisher als wertvoll und richtig erschien, zugunsten der neuen Familie, deren Oberhaupt Christus ist. Nur dort, wo das geschieht, verwandeln sich die Menschen, die Verhältnisse und die Welt.
Das können die Menschen natürlich nicht aus eigener Kraft, eben deshalb brauchen sie dazu das Kraft spendende Abendmahl. Wo diese Kraft wirkt, bleibt kein Mensch, wie er ist. Der Neonazi wird dann kein Neonazi mehr sein, die Heuschrecke keine Heuschrecke mehr und der reaktionäre Evangelikale kein reaktionärer Evangelikaler mehr.
Längst ist dem Abendmahl der revolutionäre Stachel gezogen worden. Die Theologen haben sich des Abendmahls bemächtigt und es im Verlauf der Kirchengeschichte durch Mystifizierung zu einem Ritual verharmlost, bei dem Brot und Wein unter den magischen Worten des Priesters angeblich eine seltsame Wandlung durchmachen, aber weiterhin nach Brot und Wein schmecken. Das Ergebnis ist, dass die Menschen aus dem Abendmahl so unverwandelt herausgehen wie sie hineingegangen sind. Symbolisch wird im Abendmahl immer wieder neu der Bund mit Gott besiegelt – eine Besiegelung, die niemanden etwas kostet und keinerlei Konsequenz fürs Leben im Alltag hat.
Heute taugt das Abendmahl vor allem als Gegenstand für Heerscharen von Theologen, die eine Flut von Doktorarbeiten über die feinsinnigen Unterschiede zwischen katholischen, lutherischen, calvinistischen und zwinglianischen Abendmahlsverständnissen produzieren. Das normale Kirchenvolk verspürt keinerlei Neigung, sich mit diesen Haarspaltereien auseinanderzusetzen, feiert einfach miteinander Abendmahl, ohne zu fragen, ob die Beteiligten kultisch rein sind oder etwa ausgeschlossen werden müssen, weil sie der falschen Konfession angehören. Und damit steht das normale Kirchenvolk jenem Jesus, der keine Berührungsängste gegenüber den als anrüchig empfundenen Mitgliedern der Gesellschaft zeigte, näher als den Klerikern, die darauf bestehen, dass man sich erst über alle dogmatischen Fragen einigen müsse, bevor man zum ökumenischen Abendmahl schreitet. In der Urkirche war’s umgekehrt: Aus dem gemeinschaftlichen Leben und der Feier des Abendmahls erwuchs die Einheit des Glaubens.
Dass dieser Jesus mit einem etwas anderen Anspruch auftritt als alle seine Zeitgenossen, Rabbiner und Konkurrenzmessiasse, zeigt auch, dass er nicht fünf Schüler unterrichtet, sondern zwölf Jünger beruft.
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