Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
erfüllt. Der Messias, auf den ihr immer noch wartet, war bereits da, und ihr habt es nur nicht gemerkt, weil ihr falschen Vorstellungen über den Messias verhaftet wart. Alles, was ihr jetzt tun müsst, ist, euch von euren falschen Vorstellungen frei zu machen und euer Bild vom Messias der Realität des wirklichen Messias anzupassen. Die jüdischen Jesus-Anhänger fühlten und bezeichneten sich weiterhin als Juden.
Zwar gab es schon im zweiten Jahrhundert in einigen christlichen Gemeinden Bestrebungen, das Jüdische zu verdrängen und das Alte Testament als im Gegensatz zur Botschaft Jesu stehende Schrift zu verwerfen, aber die Kirche als Ganzes hat diesem Ansinnen widerstanden in dem Bewusstsein, dass sie damit ihr Fundament verlöre. Altes und Neues Testament bilden eine untrennbare Einheit, und das sie Verbindende ist stärker und wichtiger als das Trennende.
Falsch ist auch der Eindruck, Gott habe mit seinem Volk der Juden gebrochen und einen neuen Bund geschlossen mit den Christen. Davon steht kein Wort in der Bibel. Vielmehr hat Gott seine Bundeszusage auf die Heidenvölker erweitert, wie es im Alten Testament verheißen und von den Juden erwartet wurde.
Auch der Gegensatz jüdischer Gott der Rache versus christlicher Gott der Liebe ist unhaltbar. Das Bild vom Gott der Rache wird bereits im Alten Testament überwunden. Die Gottesliebe, die Nächstenliebe und die Fürsorge für den Feind sind alttestamentliche Kernbestandteile. 17 Der zornige Gott dagegen, der Gott des Gerichts, ist notwendiger Bestandteil der alt- und neutestamentlichen Gottesbilder, notwendig, weil ein Gott, dem man den Zorn abspricht, ein harmloser Gott wäre, wie der Neutestamentler Gerhard Lohfink betont: «Der Zorn Gottes ist der Zorn des Richters, der das Unrecht, das auf Erden geschieht, nicht länger ertragen kann und deshalb richtend und rettend eingreift.» 18 Gott zürnt, weil er liebt, sagt das Alte Testament, und das Neue sagt es auch.
Schwieriger scheint es, den Gegensatz jüdischer Kollektivismus versus christlicher Individualismus zu widerlegen. Aber es scheint eben nur so. Zwar stimmt es, dass Gott laut Altem Testament ein ganzes Volk als Werkzeug braucht, um in der Welt handeln zu können, aber dem widerspricht das Neue nicht. Auch «Gemeinde» und «Kirche» sind nur verschiedene Wörter für «Volk Gottes». Kollektivistisch geht es daher auch im Christentum zu, aber weder bei den Juden noch bei den Christen geschieht das nach dem Motto: Du bist nichts, dein Volk ist alles. Im Gegenteil. Gott geht es um das Heil jedes Einzelnen, und um das zu erreichen, müssen sich viele Einzelne zu einem größeren Ganzen zusammenschließen, damit sie gemeinsam und organisiert handeln können. Im Übrigen kehrt schon das allererste Kapitel des Alten Testaments den unendlichen Wert des Einzelnen heraus. Im Schöpfungsbericht heißt es, Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Schon Adam, der erste Mensch, ist Gott so viel wert wie die ganze Menschheit. Eben daraus leitet sich die Würde jedes einzelnen Menschen ab.
Bleibt als letzter Gegensatz der zwischen jüdischer Gesetzesreligion und christlicher Freiheit. Es ist der einzige Gegensatz, der – noch nicht so deutlich bei Jesus, aber schon ausgeprägt bei Paulus – wirklich einen echten jüdisch-christlichen Dissens darstellt und den Keim der Spaltung in sich birgt. Aber der Dissens war ursprünglich kleiner, als er später wurde, denn die Abwertung der rein äußerlichen Vorschriftenbeachtung ist kein christliches Spezifikum. Gegen den Dienst nach Vorschrift haben auch schon die Propheten gewettert. Denn an Liebe habe ich Wohlgefallen und nicht am Opfer, an der Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern , heißt es beim Propheten Hosea (6, 6), und das ist beileibe nicht die einzige Stelle, die belegt, dass schon im Alten Testament die bloße Gesetzesreligion nicht hoch im Kurs steht. Bei jedem Propheten findet man Texte, die betonen, dass der Glaube zuvörderst eine Herzensangelegenheit sei und nicht eine Sache religiöser Paragraphenhengste.
Jesus hat also nicht das Alte Testament angegriffen, sondern die davon abweichende Praxis seines Volkes. Das aber, das Leben nach dem Buchstaben statt nach dem Geist des Gesetzes, und den Gegensatz zwischen innerer Gesinnung und äußerem Schein hat in Israel keiner so herausgestellt und so radikal kritisiert wie Jesus. Und kaum einer hat sich über die 615 Vorschriften des jüdischen Lebens und über die Vorstellungen seiner
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