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Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Titel: Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Nürnberger
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zwar gegeben, aber sie wurden vermutlich nach seinem Tod von den christlichen Gemeinden stark aufgebauscht und teilweise neu konstruiert, um sich von den Juden abzugrenzen.
    Auch die theologischen Differenzen der Pharisäer mit Jesus waren wohl ursprünglich nicht so schwerwiegend und groß, wie es das Neue Testament suggeriert. Hier wirkt bis heute der Trennungsschmerz zwischen Christen und Juden nach. Jede Trennung schlägt Wunden, hinterlässt Narben, Bitterkeit, Schuldvorwürfe. Es gibt sie im Judentum, und es gibt sie im Christentum. Zu besichtigen sind sie im Neuen Testament und der sich anschließenden Kirchengeschichte.
    Viele der Wortgefechte, die sich Jesus mit den damals wichtigen Gruppierungen des Judentums lieferte, waren eigentlich nur ganz normale innerjüdische Differenzen, wie es sie unter Juden schon immer gegeben hatte. Man besaß zwar das Gesetz als für alle verbindliche Grundlage, über die es keinen Streit gab. Aber Streit gab es stets darüber, wie die einzelnen Bestimmungen des Gesetzes für jede Zeit richtig auszulegen und auf konkrete Situationen anzuwenden waren. Jesus mischte sich da ganz selbstverständlich ein und vertrat eine eigene, originäre Position, die sich eben in einigen Punkten markant von den Schriftgelehrtenmeinungen unterschied.
    Zu einer neuen Religion hätten diese markanten Abweichungen – soweit sie tatsächlich auf Jesus selbst zurückgehen und nicht schon von den Evangelisten zur Verdeutlichung verschärft wurden – nicht unbedingt führen müssen. Dass es trotzdem dazu kam, hat natürlich mit dem Kreuzestod zu tun, aber noch mehr mit der Tatsache, dass Paulus später die Botschaft von Jesus unter Heiden im griechisch-römischen Sprachraum verbreitete und so weiterentwickelte, dass sie inkompatibel mit dem Judentum wurde. Durch diese Unvereinbarkeit tat sich ein Graben auf, der von der jungen Kirche und noch mehr von den vielen Theologengenerationen der nachfolgenden Jahrhunderte immer weiter aufgerissen wurde.
    Heute erscheint uns die Breite und Tiefe des Grabens als künstlich herbeigeführt. In Wahrheit liegen Juden und Christen enger beieinander, als es der Graben suggeriert. In ihm bildete sich im Lauf der Zeit ein antijudaistisches Klischee heraus, das zum Nährboden für den späteren Antisemitismus werden sollte.
    Das Klischee besagt: Das Neue Testament war notwendig, um das Alte zu überwinden. Die Christen sind das neue Volk Gottes, mit dem Gott einen neuen Bund geschlossen hat, weil ihn sein altes Volk der Juden so enttäuscht und weil es sich so halsstarrig geweigert hat, Jesus als Messias und Sohn Gottes anzuerkennen und dessen Sühneopfer anzunehmen. Das Klischee besagt weiter, der Gott des Alten Testaments sei ein Gott der Rache und der Furcht, der des Neuen ein Gott der Liebe und der Erlösung. Die jüdische Religion des Alten Testaments sei eine Gesetzesreligion, bei der es nur auf die äußerliche Befolgung aller Vorschriften ankomme. Dagegen bedeute das Neue Testament eine Befreiung vom Zwang dieser Äußerlichkeiten, denn im Christentum komme es vor allem auf das Herz des Menschen an. Außerdem gehe es dem christlichen Gott um jeden Einzelnen, während die kollektivistische jüdische Religion nur die große Masse sehe.
    Nichts davon hält einer Nachprüfung stand. Das überwiegend im ersten Jahrhundert entstandene Neue Testament ist nicht in der Absicht geschrieben worden, das Alte zu überwinden. Im Gegenteil. Das Alte Testament, die Bibel der Juden, war auch die Bibel der Urchristen, die in Jesus nicht eine Überwindung oder Überbietung, sondern die Erfüllung der Schrift gesehen haben.
    Ähnlich empfindet das heute der emeritierte Erzbischof von Paris, Jean-Marie Kardinal Lustiger, der als Jugendlicher vom Judentum zum Katholizismus konvertierte. Auf die Frage, ob die Lektüre des Neuen Testaments Überraschendes für ihn zutage gefördert habe, antwortete er sinngemäß, er habe darin gefunden, dass Jesus die Erkenntnisse des Judentums zu Ende gedacht habe. Alles sei ihm sehr vertraut erschienen.  16
    Das Judentum zu Ende gedacht – so sahen es wohl auch Paulus, die Evangelisten und die übrigen Apostel. Sie wollten mit ihren Texten, die dann später den Kanon des Neuen Testaments bildeten, nicht das Alte Testament verdrängen und durch ein neues ersetzen, sondern das Alte Testament fortschreiben und mit den neueren Ereignissen ergänzen. Ihre ganze Botschaft lautete: Freut euch, ihr Juden, die Verheißungen eurer Bibel haben sich

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