Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Zeitgenossen über ein Gott wohlgefälliges Leben so souverän hinweggesetzt wie Jesus. Provokant, mit drastischen Worten fertigt er seine schriftgelehrten Kritiker ab, als diese meinen, ihn darauf aufmerksam machen zu müssen, dass seine Jünger ihre Hände nicht waschen, bevor sie Brot essen. Statt klein beizugeben und seine Jünger für deren Verstoß gegen geheiligte Reinheitspraktiken zu rügen, greift er die Beschwerdeführer an: Ihr Heuchler! Trefflich hat Jesaja von euch geweissagt, wenn er spricht: Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir. (Matthäus 15, 8)
Doch Jesus sieht ein, dass er es dabei nicht belassen kann, denn das Volk versteht ihn nicht, und darum sagt er: Nicht das, was zum Munde eingeht, verunreinigt den Menschen; sondern was aus dem Munde herauskommt, das verunreinigt den Menschen. (Matthäus 15, 11)
Natürlich nehmen die Pharisäer daran Anstoß, und die Jünger berichten es Jesus, woraufhin dieser sarkastisch antwortet: Lasset sie; sie sind blinde Blindenleiter. Wenn aber ein Blinder den andern leitet, werden beide in die Grube fallen. (Matthäus 15, 14)
Und schließlich erledigt er mit drastischen Worten das religiöse Gewese um koschere und nichtkoschere Speisen: Merket ihr noch nicht, dass alles, was zum Munde eingeht, in den Bauch kommt und in den Abort geworfen wird? Was aber aus dem Munde herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugnisse, Lästerungen. Das ist‘s, was den Menschen verunreinigt; aber mit ungewaschenen Händen essen, das verunreinigt den Menschen nicht. (Matthäus 15, 17–20)
Hier hören wir einen Jesus sprechen, der sich weit entfernt von der jüdischen Tradition. Auf diesen Jesus wird sich später Paulus berufen bei seinem Streit mit jenen getauften Juden, die große Probleme damit haben, dass plötzlich getaufte Heiden hinzukommen, die sich nicht beschneiden lassen und sich, angeleitet von Paulus, auch sonst großzügig über jüdische Bräuche und Vorschriften hinwegsetzen. Im Konflikt zwischen getauften Heiden und getauften Juden wuchs der innerchristliche Spaltpilz heran.
Im Lauf der Zeit gerieten die Judenchristen in die Minderheit, weil die neue Lehre bei den Heiden auf viel größere Resonanz stieß als bei den Juden. So konnte es nicht ausbleiben, dass in dem Maß, in dem die Zahl der Heidenchristen wuchs, diese immer mehr den Ton angaben, was sowohl die innerchristlichen Konflikte verschärfte als auch die Konflikte der Christen mit den Juden. Beide stritten erbittert um die Wahrheit, machten sich gegenseitig schlecht, und der christliche Groll auf die Juden schlich sich, vor allem über die Pharisäerbeschimpfung, ins Neue Testament ein, wo er langfristig seine verheerenden Wirkungen gegen die Juden entfalten sollte. Schon im zweiten Jahrhundert gab es in nicht wenigen Gemeinden Bestrebungen, den christlichen Glauben zu «entjudaisieren». Offenbar mangelte es schon damals beiden Gruppen an dem, was doch der gemeinsame Gott von beiden verlangte: Liebe.
JESUSGLAUBE ZWISCHEN MYTHOS UND KRITISCHER RATIONALITÄT
Gegenüber Abraham und Mose hat die Geschichte von Jesus den Vorzug, dass ihr Held tatsächlich gelebt hat. Die außerbiblischen Quellen, die Jesu Existenz belegen, sind zwar spärlich, aber die meisten Historiker zweifeln heute nicht mehr daran: Jesus gab es wirklich. Von Mose wissen wir das nicht so sicher, noch weniger von Abraham.
Dieser Vorzug trägt aber nicht weit, denn alles andere ist ungewiss. Jesus hat uns keinen einzigen von ihm geschriebenen Satz hinterlassen. Er war ein Mann des gesprochenen Wortes. Geschichten, Parabeln und Gleichnisse hat er erzählt und im alltäglichen Umgang mit seinen Jüngern und Zuhörern manch einprägsamen Satz formuliert. Die Leute hörten ihm zu und sagten das Gehörte weiter.
Soweit wir wissen, hat niemand mitgeschrieben. Nach seinem Tod erzählten seine Zeitgenossen aus dem Gedächtnis, was er sprach und tat, wie er lebte und litt. Irgendwann hat vermutlich jemand seine Kernsätze aufgezeichnet und diese in den christlichen Gemeinden verbreitet. Zwei Jahrzehnte später fing ein Großer an, über ihn zu schreiben, Paulus. Nach weiteren zwei Jahrzehnten entstand das Markus-Evangelium. Der unbekannte Verfasser schöpfte vermutlich aus den aufgeschriebenen Kernsätzen, einer Spruchquelle, und aus ihm zur Verfügung stehenden mündlichen Quellen.
Dann
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