Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
schrieben auch andere: Matthäus, Lukas, Johannes. Sie stützten sich auf Markus, eine Spruchquelle und hatten außerdem noch eigene Stoffe. Seitdem verfügen wir über Schriften in so hoher Zahl, wie bei kaum einer anderen antiken Persönlichkeit. Überdies sind die Dokumente in so geringem zeitlichem Abstand zu Jesu Tod entstanden, dass die Quellenlage eigentlich besser gar nicht sein könnte, und trotzdem ist historisch so gut wie alles umstritten, was diesen Jesus betrifft, denn die vielen Dokumente über ihn haben allesamt denselben Nachteil: Es handelt sich bei ihnen nicht um Geschichtsschreibung, sondern um Geschichtsdeutung, um eine vom Glauben bestimmte Weltsicht. Es handelt sich um das Neue Testament.
Die vier Evangelien, die Briefliteratur der Apostel, die Apostelgeschichte und die Johannes-Offenbarung, insgesamt 27 Schriften in griechischer Sprache, entstanden zwischen 50 und 130 nach Christus, sie wurden allesamt in einer einzigen Absicht geschrieben: Sie sollten Jesus als auferstandenen Christus und Herrn der Welt erweisen. Keiner der meist unbekannten Verfasser stammt aus dem Kreis der Jünger. Keiner hat Jesus persönlich gekannt. Die Autoren zeichnen auf, was sie gehört haben, was sie von anderen gelesen haben, was sie selber denken und glauben, und was sie in ihren Gemeinden erfahren. Es sind Glaubende, die schreiben, und als solche wollen sie ihren Glauben weitersagen, weitergeben und damit bei anderen Glauben erwecken. Und sie wollen der Welt, vor allem aber den Juden, darlegen, dass es sich bei Jesus um jenen Messias, Heilsbringer, Erlöser und Sohn Gottes handelt, dessen Kommen im Alten Testament prophezeit wird. Das ist für die Jesus-Anhänger der damaligen Zeit das größte neuere Ereignis der Weltgeschichte, nein, das größte Ereignis überhaupt, und davon sollen alle Menschen erfahren.
Dafür war es notwendig, möglichst anschaulich vom Leben, Lehren und Sterben Jesu zu berichten und zugleich jede Tat, jede Äußerung und jedes mit Jesus zusammenhängende Ereignis mit Lehren, Sätzen und Ereignissen des Alten Testaments in Beziehung zu bringen. Auf den Schriftbeweis , die Kontinuität zum Alten Testament, und auf theologische Stimmigkeit legten die Verfasser mehr Wert als auf historische Genauigkeit.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Jesus wurde wahrscheinlich in Nazareth geboren, aber für die Evangelisten musste er in Bethlehem auf die Welt kommen, denn nach einer Prophezeiung des Propheten Micha (5, 1) wird der Messias aus Davids Geschlecht aus Bethlehem stammen. Von einem Kindermord des Herodes im Zusammenhang mit Jesu Geburt ist den Historikern nichts bekannt, aber die Geschichte erinnert an den Kindermord des Pharao vor Israels Auszug aus Ägypten.
Das Neue Testament ist voll von solchen Anspielungen auf, Parallelen und Zusammenhängen mit dem Alten Testament. Sie waren den Evangelisten wichtiger als rein empirische Daten und Fakten. Es ging ihnen um ein Wissen, das schon gedeutet ist und tiefer blickt als bloß empirisches Wissen, das man sowieso nur vom Hörensagen kannte.
Wie schon die Schöpfer des Alten Testaments, so waren also auch die Schöpfer des Neuen Testaments weniger an einer faktengetreuen als vielmehr an einer theologischen Geschichtskonstruktion interessiert. Die Tatsachen hatten sich nach dem Glauben zu richten, und das war die damals übliche, allgemein akzeptierte Haltung unter den antiken Menschen. Niemand nahm daran Anstoß, niemand wäre auf die Idee gekommen, von Betrug oder Priesterschwindel zu reden.
Deshalb, und auch, weil es mehrere waren, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten für unterschiedliche Adressaten schrieben, stoßen wir im Neuen Testament auf so viele Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten, dass unser Bild von Jesus und seinen Jüngern von Anfang an unscharf und mehrdeutig ist. Der heutige Pluralismus in der Theologie und in den Kirchen ist eine Folge dieser anfänglichen Unschärfe. Sie musste mit wachsendem zeitlichem Abstand zwangsläufig immer mehr zunehmen, und vielleicht bedurfte es dieser Unschärfe von Anfang an, damit sich das Christentum zur Weltreligion entwickeln konnte.
Auf welch sumpfigem Gelände sich die historische Forschung über Jesus bewegt, wird bereits klar, wenn man nach den simpelsten Eckdaten seines Lebens fragt: dem genauen Geburts- und Todesdatum. So fällt nach Matthäus (2, 1) Jesu Geburt in die Regierungszeit des Königs Herodes. Von dem wissen wir, dass er um 4 vor Christus starb. Nach
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