Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Lukas jedoch ereignete sich die Geburt während der Volkszählung des Kaisers Augustus. Diese konnte frühestens um 6 nach Christus stattgefunden haben, denn der von Lukas genannte römische Präfekt Quirinius (manchmal auch Kyrenius geschrieben) soll die Aktion durchgeführt haben, und Quirinius hatte dieses Amt erst seit 6 nach Christus inne.
Doch damit nicht genug. Denn in der Folge widerspricht sich Lukas selbst. Er schreibt: Und Jesus war ungefähr dreißig Jahre alt, als er anfing zu lehren (3, 23). Zuvor aber wurde Jesus von Johannes getauft, und über Johannes heißt es bei Lukas (3, 1), er sei im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius von Gott als Prophet berufen worden und bald darauf Jesus am Jordan begegnet, wo sich Jesus von ihm taufen ließ. Tiberius regierte von 14 bis 37 nach Christus, also musste Johannes um das Jahr 28/29 nach Christus an den Jordan gegangen sein und um diese Zeit oder später Jesus getauft haben. Wenn Jesus damals ungefähr dreißig Jahre alt war, konnte er tatsächlich um das Jahr Null herum geboren worden sein. Allerdings könnte die Zahl dreißig auch symbolisch gemeint sein, weil bei den Juden mit dreißig Jahren das Mannesalter begann. Symbolische Zahlen waren allen antiken Menschen wichtiger als empirische. Es ist also unmöglich, aus den verfügbaren Quellen das tatsächliche Geburtsjahr Jesu abzuleiten.
Dasselbe gilt für das Todesdatum. Gekreuzigt wurde Jesus unter Pontius Pilatus, der zwischen 26 und 36 römischer Statthalter in Judäa war. Aber an welchem Tag in welchem Jahr? Auch hier widersprechen die Evangelien einander oder sind ungenau, und die Daten müssen auf komplizierte Weise von Astronomen kalendarisch aus den Angaben Rüsttag (Vorabend des Sabbat), Sabbat und Pessach nach dem Sederabend berechnet werden, und daraus ergibt sich, dass die Hinrichtung im April der Jahre 30, 31, 33 oder 34 stattgefunden haben muss. Jesus wird also wohl mindestens dreißig und höchstens vierzig Jahre alt gewesen sein, als er am Kreuz starb. Genaueres lässt sich nicht sagen.
Der Versuch, eine Biographie Jesu zu schreiben, scheitert also bereits an Datierungsfragen. Die Probleme, mit denen man bei der Bestimmung von Geburts- und Todesjahr konfrontiert ist, stellen sich bei so gut wie jedem berichteten Detail aus dem Leben Jesu, auch bei den wichtigeren. Trotzdem ist immer wieder probiert worden, aus allen verfügbaren Daten so etwas wie eine Biographie herauszukristallisieren. Aber all diese Versuche liefen auf die Erkenntnis hinaus, dass es nicht geht.
Schon vor rund hundert Jahren war der berühmte Arzt und Theologe Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen: Was immer die Autoren in der Vergangenheit über Jesus geschrieben haben, es hatte wenig mit dem wirklichen Jesus und viel mit den Autoren zu tun. Sie haben ihr jeweiliges Idealbild in Jesus hineinprojiziert. Aufklärer sahen in Jesus einen Aufklärer, Tierfreunde einen Tierfreund, Kinderfreunde einen Kinderfreund, Patrioten einen Patrioten.
Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Man muss nur einmal die Kirchentage der letzten dreißig Jahre Revue passieren lassen. Immer trug der auf diesen Kirchentagen verkündete Jesus die Gewänder des jeweils regierenden Zeitgeistes, während der wilden 68er Jahre etwa die Baskenmütze Che Guevaras oder den Palästinenserfeudel Arafats, später das T-Shirt der Friedensbewegung mit der Aufschrift «Make Love Not War », danach die lila Latzhose der Feministinnen, den Anti-AKW-Aufkleber der Umweltschützer, den Norweger-Pullover der Ökofreaks, den Umhang eines indischen Meditations-Gurus, die Locken eines Rastafari. Seit die Individualisierung unter den Jugendlichen explosionsartig zunimmt, spaltet sich Jesus in einen Love-Parade-DJ, einen spirituellen Guru, einen coolen Manager, einen Hip-Hopper, einen Rapper und noch vieles mehr, während es den Latzhosen- und Norweger-Pullover-Jesus und all die anderen Jesusse auch weiterhin gibt.
Und diese Kirchentags-Jesusse sind ja nur ein kleiner Ausschnitt aus einer schier unübersehbaren Vielzahl von Jesusbildern. War Jesus nicht ein Weiser, ein Charismatiker, ein Mystiker? War er nicht auch Wunderheiler, Psychotherapeut, Narr, Rebell, Lehrer, Geschichtenerzähler, ein Mensch für andere oder schlicht der neue Mann?
Nicht von ungefähr hat Gott ein Bilderverbot erlassen. Als Mose Gott bat, lass mich deine Herrlichkeit sehen , antwortete dieser, mein Angesicht
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