Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Schriften liest, die damals nicht aufgenommen wurden, und sie vergleicht mit denen, die es in den Kanon geschafft haben, kann sich nur wundern über die traumwandlerische Sicherheit, mit der die junge Kirche das Notwendige vom Entbehrlichen unterschieden hatte.
Doch vielleicht ist das Wunder so groß auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass in jener verschworenen Gemeinschaft, welche die Christen darstellten, ein Binnenklima herrschte, das es erleichterte, gemeinsam zu tragfähigen Lösungen zu gelangen. Wer ständig den staatlichen Druck von außen zu spüren bekommt, immer mit einem Bein im Gefängnis steht und seinen Glauben unter Todesgefahr praktiziert, entwickelt ganz von selbst die Fähigkeit, das Unwichtige vom Wichtigen und das Wahre vom Falschen scheiden zu können.
Mit der massenhaften Eingliederung der Zwangsgetauften, dem Wegfall der Gefahr und des äußeren Drucks musste dieses besondere Binnenklima, das als Wirken des Heiligen Geistes empfunden wurde, natürlich zwangsläufig verschwinden. So wurde der Heilige Geist von den nicht wirklich bekehrten Neuchristen aus den Gemeinden hinausgedrängt. Der Geist weht seitdem zwar, wo er will, aber was nützt das, wenn er dabei kaum noch auf Menschen trifft, die dafür empfänglich sind?
Dass sich die innere Kraft des Christentums durch die Zwangsbekehrten verflüchtigte, ist den Beteiligten lange nicht aufgefallen, denn sie hatten alle Hände voll zu tun, um mit den Folgen der germanischen Umtriebe fertig zu werden. Da konnte man nicht ständig mit der Bibel unterm Arm herumlaufen. Im Übrigen leistete man sich Theologen, die das kirchlich-staatliche Handeln schon zu legitimieren wussten.
Die Botschaft des Jesus wurde von den vielen, die dem Namen nach Christen waren, kaum begriffen, von den Mächtigen und Privilegierten oft bewusst falsch verstanden, eingespannt für die eigenen Zwecke und missbraucht für Ziele, die niemals die Ziele von Jesus oder Paulus gewesen waren. Das Bündnis von Thron und Altar war die kirchliche Ursünde, die nun weitere Sünden fort und fort zeugte, die Geschichte der Kirche zu einer Geschichte der Irrungen und Wirrungen machte und die frohe Botschaft von Jesus in ihr Gegenteil verkehrte.
Der Zwangsbekehrung der Heiden folgten Verteufelungen der Kritiker als Abweichler, Irrlehrer und Häretiker. Bald schon brannten die Scheiterhaufen, glühten die Folterinstrumente und versahen zahlreiche Henker und Scharfrichter ihr Handwerk im Auftrag der Kirche. In ihrem Eifer, alles Heidnische auszurotten, machte die Kirche auch nicht halt vor den großen kulturellen Leistungen der Griechen und Römer. Heidnische Tempel und Kultstätten wurden zerstört, und mit ihnen die darin enthaltenen Kunstwerke. Bücher mit heidnischer Philosophie, Dichtung, Literatur gingen in Flammen auf oder wurden weggesperrt.
Kritik, Humor, das Lachen, das Leichte, das Spielerische wurden denunziert, verbannt, bedroht. Heiliger Ernst legte sich über das Land, fanatischer Dogmatismus tyrannisierte Kaiser, Könige und das Volk. Bußpredigten, die Verheißung göttlicher Strafgerichte, das geradezu lustvolle Wühlen der Kleriker in den Sünden der Menschen und die ausführliche Schilderung der Höllenqualen für die Sünder schufen ein Klima der Angst, der Freudlosigkeit und der gnadenlosen Härte.
Es folgten Inquisition, Hexenverbrennungen, Kriege und Kreuzzüge im Namen Gottes, Ausbeutung der Schwachen, Unterdrückung und Manipulation von Wahrheit, Missionierung der Heiden durch Feuer und Schwert, Ausrottung der Indianer im Namen Christi, Imperialismus, Kolonialismus und Versklavung der Schwarzen unter kirchlicher Duldung, Segnung der Kanonen, kirchlich genährter Antisemitismus und das Versagen großer Teile der Amtskirche im Dritten Reich.
Die Geschichte des Christentums ist eine große Geschichte des Scheiterns, des Verrats und des Herumtrampelns auf der eigenen Botschaft. Es ist eine Geschichte der ewigen Vermischung menschlicher Interessen mit denen Gottes, und es ist eine Geschichte der Instrumentalisierung des Glaubens für Macht, Herrschaft und Besitz. Noch zu Beginn der Neuzeit wurde für die Kolonisierung der Welt durch europäische Mächte das heuchlerische Argument bemüht, die Heiden taufen zu wollen, wo es doch in Wahrheit nur um das Gold der Inka ging, um Land, Reichtum und Ausdehnung des Machtbereichs.
Aber zugleich ist die Geschichte des Christentums auch eine große Geschichte des Widerstands gegen diesen Verrat und eine Geschichte des
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