Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Streben nach Macht, und mit dem Keuschheitsgelübde sollte die dritte der großen Katastrophenursachen bekämpft werden, die Sucht nach rücksichtsloser Triebbefriedigung. Das mönchische Leben war der Versuch, durch Askese die schlechte Natur des Menschen zu überwinden und damit dem Anspruch der Gottebenbildlichkeit gerecht zu werden oder zumindest näherzukommen. Die Gesellschaft der Mönche und Nonnen war eine wirkliche Kontrastgesellschaft, die sich nicht nur äußerlich und innerlich, sondern auch durch ihre sichtbar vorhandenen materiellen Strukturen unübersehbar von der normalen Gesellschaft unterschied.
Klöster, oft auf einen Berg gebaut und darum weithin sichtbar, symbolisierten eine Zeit lang tatsächlich jene vorweggenommene Utopie, wie sie die Offenbarung des Johannes in Anspielung auf eine entsprechende Stelle im Buch Jesaja als goldenes Jerusalem ausmalt: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel herabsteigen von Gott, zubereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut … (In dieser Stadt wird Gott selbst) unter den Menschen wohnen und abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz. (Offenbarung 21, 1–4)
Es blieb eine schöne Utopie, denn irgendwann verfiel auch die Kraft der Klöster, verluderten selbst dort die Sitten, verlotterte die Kirche als ganze. Schon das Wort «Fürstbischof» zeigt, wie weit sich die klerikale Herrenrasse von jenem Mann entfernt hat, der einmal von sich sagte: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel des Himmels haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann. (Matthäus 8, 20) Die mittelalterliche Kirche samt ihrer Mönche und Nonnen hatte sich zu einem machtgeilen, geldgierigen, räuberischen, erpresserischen, seine Untertanen bis aufs Blut aussaugenden Unterdrückungsapparat entwickelt, der überwiegend dem Zweck diente, den klerikalen Prunk und die Fress-, Sauf- und Sexorgien der dekadenten Bischöfe, Kardinäle und Päpste im Vatikan zu ermöglichen.
Ein kleiner Mönch aus Wittenberg, der Doktor Martin Luther, fasste 1517 den jämmerlichen Zustand der Kirche in Worte und brachte das morsche Gebäude damit zum Einsturz. Er spaltete die Kirche, aber die Spaltung erwies sich als heilsam. Plötzlich hatte die allein seligmachende Kirche Konkurrenz bekommen. Um dagegen zu bestehen, musste auch sie sich reinigen und reformieren. Geteilt konnten beide Konfessionen bis heute überleben. Ohne Reformation wäre die verrottete Institution an sich selbst zugrunde gegangen.
Das Bündnis von Thron und Altar aber hat auch Luther nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil. Seine evangelische Kirche konnte sich überhaupt nur halten, weil sie von zahlreichen Fürsten und Königen unterstützt wurde, und diese Unterstützung erhielt sie nicht in jedem Fall aus Liebe zum christlichen Glauben oder aus Einsicht in die Gedanken der Reformation, sondern aus Hass auf die Römische Kirche, von deren übermächtigem Einfluss sich die Fürsten durch Luthers Reformation befreien konnten – wieder ein Geburtsfehler, der dazu führte, dass das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf evangelischer Seite noch inniger wurde als auf katholischer. Wieder eine verhängnisvolle Mischung von Glaube und Nutzen.
Das immerwährende Bündnis von Thron und Altar verlieh der Kirche Macht, Durchsetzungskraft, dauerhaften Bestand und Gestaltungskraft. Das Bündnis wurde zur Ordnungsmacht im untergehenden Römischen Reich, zur Gründungsinstitution Europas und zugleich zu dessen ordnender und gestaltender Kraft. Ohne diesen Zusammenschluss würde das heutige Europa nicht existieren.
Ob es besser gewesen wäre, wenn es dieses Bündnis nie gegeben hätte, wissen wir nicht. Niemand vermag zu sagen, wie die Geschichte ohne es verlaufen wäre. Vielleicht wäre ganz Europa mittlerweile islamisch. Und vielleicht hätte sich der Islam ganz anders entwickelt und wäre vom heutigen völlig verschieden, aber das alles ist bloße Spekulation. Nur eines lässt sich sagen: Europa ist janusköpfig, und diese Janusköpfigkeit ist eine Folge seiner ambivalenten Geschichte. Fluch und Segen des Bündnisses von Thron und Altar haben sich gleichermaßen ausgewirkt.
Europa hat vermutlich mehr Unglück als Glück über die anderen Völker gebracht. Es war gewalttätig,
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