Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
mächtigste Mann der Welt nun mit ihnen paktierte, war für sie kein Anlass zu Misstrauen, sondern eine Fügung Gottes. Sie, die über keinerlei politische Erfahrung verfügten, waren noch viel zu naiv, um einen Gedanken an den Verdacht zu verschwenden, der Kaiser könnte sie möglicherweise für seine weltlichen Zwecke benutzen. Im Gegenteil: Der Kaiser war, als Frucht ihrer Gebete, von Gott geschickt. Was er tat, musste gottgewollt sein. Im Übrigen hatten schon Paulus und später Augustinus gelehrt, auch die weltliche Herrschaft unterliege Gottes Führung und habe darum, innerhalb ihrer Grenzen, Anspruch auf Gehorsam.
Der Bevorzugung der Christen folgte die Alleinherrschaft. Im Jahr 380 wurde von Theodosius dem Großen die Religionsfreiheit abgeschafft und das Christentum zur Staatsreligion erhoben. Kaiser und Kirche wurden Komplizen. Heidentum und Häresie galten nun als Staatsverbrechen, und noch vor dem Ende des vierten Jahrhunderts wurden schon die ersten Ketzer hingerichtet. Innerhalb kürzester Zeit war aus der verfolgten Kirche eine verfolgende Kirche geworden.
Sie ist da zu Beginn unschuldig hineingeschlittert. Aber irgendwann hätte sie erkennen müssen, dass ihr Tun immer weniger mit dem übereinstimmt, was Jesus gewollt hat – doch wann hätte die Kirche das erkennen müssen? Im fünften Jahrhundert? Im sechsten, siebten, achten? Das ist schwer zu sagen. Man darf nicht vergessen, dass gerade ein Weltreich unterging in jenen Jahrhunderten. Die Vandalen, Goten, Franken und all die anderen Germanenstämme marodierten durchs Römische Reich, mordeten, zerstörten, raubten, brandschatzten. Chaos und Anarchie machten sich breit, und Kaiser und Kirche brauchten einander, um eine neue Ordnung auf den Trümmern des untergehenden Reiches zu errichten.
Und: Die Christen meinten es gut mit den Menschen. Die Taufe, von Johannes einst praktiziert als äußeres Zeichen für die innere Umkehr, war zwischenzeitlich zu einem geheimnisvollen Vorgang mit magischer Wirkung uminterpretiert und von ihrem Ursprung entfremdet worden. Jetzt war die Taufe ein Mittel zur Rettung der Seelen. Ungetaufte drohten der ewigen Verdammnis anheimzufallen. War es da nicht eine segensreiche Gnadentat, die unwissenden, unmündigen Schäflein durch die Taufe in ihr Glück zu zwingen?
Es ist klar, dass der christliche Glaube in jenen Jahrhunderten der Zwangschristianisierung einem tiefgreifenden Wandel unterworfen wurde. Was einst die Kirche stark gemacht und zu ihrem großen Erfolg beigetragen hatte, der freiwillige Eintritt in die Christengemeinschaft, der damit verbundene Ernst, die tiefe Überzeugung ihrer Mitglieder, das besondere Leben in den Gemeinden, die Radikalität der christlichen Existenz, verschwand jetzt wieder, denn wie konnte man eine ernsthafte Überzeugung von Menschen verlangen, die zur Taufe gezwungen wurden oder sich aus purem Opportunismus taufen ließen?
Plötzlich bestand die Kirche in ihrer Mehrzahl aus Menschen, die innerlich noch gar nicht für das Christentum gewonnen waren. Dadurch wuchs sie zwar schnell zu einer mächtigen, über das ganze Römische Reich verbreiteten Organisation, aber von nun an gingen ihre innere Stärke und Überzeugungskraft genau in dem Maß verloren, in dem ihre äußere Machtentfaltung zunahm.
Von nun an verlor auch die bis dahin entwickelte Lehre vom Heiligen Geist ihre Grundlage. Diese Lehre besagte, dass sich die jeweils richtige Auslegung der Schrift in der Gemeindeversammlung durch die Anwesenheit des Heiligen Geistes vermitteln würde. Die Gemeindeversammlung war die Instanz, in der theologische Streitfragen geklärt, falsche Auslegungen verworfen, fremde Einflüsse ausgeschieden und Fehlentwicklungen korrigiert wurden. Die Christen glaubten, dass sich dort, wo sich die ganze Gemeinde versammelt, um brüderlich miteinander zu streiten, durch das Wirken des Heiligen Geistes die Wahrheit erweisen werde und dass sich auf diese Weise die Einmütigkeit im Glauben und die Einheit der Christen immer wieder von selbst herstellen werde.
Vielleicht war das ja tatsächlich so während der ersten drei bis vier Jahrhunderte. Dass die junge Kirche damals sehr weise gewesen sein muss, erschließt sich jedem, der beispielsweise die christliche Kanonbildung verfolgt. Schon die Entscheidung, die gesamte jüdische Bibel in den Schriftenkanon mit aufzunehmen, war angesichts der starken Kräfte, die damals den christlichen Glauben entjudaisieren wollten, eine reife Leistung. Und wer heute in den
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