Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
denn das muss erst erlernt werden, meist unter Mühen. Man muss bereit sein, sich von den anderen korrigieren zu lassen. Das fällt den Menschen unendlich schwer. Daran sind schon viele Aufbrüche gescheitert.
Die Umkehr, die dabei verlangt wird, hat nichts mit moralischem Gutsein zu tun. Moralische Hochleister behindern den Betrieb im Reich Gottes eher, als dass sie ihn befördern. Daher tut sich Jesus mit Zöllnern, Ehebrechern und kleinen Ganoven stets leichter als mit jenen hochanständigen Pharisäern, deren über jeden Zweifel erhabene moralische Qualität Respekt abnötigt, aber eben darum meistens auch mit hochmütigem Tugendstolz gravitätisch einherschreitet. Umkehr ist etwas viel Radikaleres als moralische Selbstvervollkommnung. Umkehr ist die radikale Entwertung all dessen, was einem im Leben als wertvoll erschien. Das alles muss drangegeben werden für das einzig Wertvolle.
Danach, wenn alles für die kostbare Perle oder den Schatz im Acker geopfert wurde (Matthäus 13, 44–46), kann man auch wieder die zuvor verworfenen Werte – die Liebe zur Musik, zur Kunst, zur Literatur, zu seinen Eltern, seinen Kindern, seiner Konfession, seiner politischen Überzeugung – in sein Leben zurückholen, aber die Priorität der Werte wird jetzt eine andere sein, und auch die Beziehung dazu wird sich verwandelt haben.
ALLES ODER NICHTS UND DAS GESETZ DER KLEINEN ZAHL
Nur wenige sind zu der von der Bergpredigt verlangten Radikalität imstande. Daher ist sie wegen vermeintlicher Unerfüllbarkeit im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder relativiert oder ganz in Frage gestellt worden. Aber dass es Jesus und den Urchristen tatsächlich ernst damit war, dass alles genauso radikal gemeint ist, wie es dasteht, das belegt nicht nur die Bergpredigt, das zieht sich als stetig wiederkehrendes Motiv durchs ganze Neue Testament, und ebenso durchs Alte.
Der christliche Glaube verlangt keine Wundergläubigkeit, keine intellektuellen Opfer, keine Erfüllung religiöser Pflichten, keine Askese, keine Riten, keine kultischen Handlungen und noch nicht einmal die Einhaltung moralischer Standards – all das ist nur Religion. Der christliche Glaube ist etwas anderes, darum verlangt er auch etwas anderes, und das ist viel mehr, als die Religion verlangt: das eigene Leben. Schlimmer noch: das Leben der eigenen Kinder, des Ehepartners, der ganzen Familie.
Schon in der allerersten Glaubensgeschichte der Bibel wird es erzählt. Abraham soll seinen Sohn Isaak opfern, und wir fragen uns unwillkürlich: Was ist das für ein Gott, der solches verlangt? Was ist das für ein Sohn, der offenbar willens war, sich widerstandslos von seinem Vater abstechen zu lassen? Was ist das für ein Vater, der seine grundsätzliche Bereitschaft bekundet, seinen Sohn umzubringen, wenn eine höhere Autorität es verlangt? Begegnet uns hier nicht der erste verblendete Fundamentalist, die Geisteshaltung des islamischen Selbstmordattentäters? Wenn das christlicher und jüdischer Glaube sein soll, wie können wir dann verrückt gewordene Sektierer davon unterscheiden?
Immanuel Kant argumentierte gegen Abrahams absoluten Gehorsam, selbst wenn Gott wirklich zum Menschen spräche, so könnte dieser dennoch niemals sicher sein, dass das, was er hört oder zu hören glaubt, Gottes Stimme sei. Wenn aber diese Stimme verlange, gegen das moralische Gesetz zu verstoßen, dann könne der Mensch gewiss sein, dass die Stimme nicht zu Gott gehöre. «Abraham», so fügte Kant hinzu, «hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‹Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden›, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.» 26
Die meisten modernen Menschen, selbst tiefgläubige Christen denken und empfinden heute so und würden diese Szene am liebsten aus dem biblischen Kanon streichen. Da das nicht geht, färben sie diese Geschichte schön, verharmlosen sie zu einem akzeptablen Fortschrittsgeschichtchen. Sie deuten die Szene als Protest gegen Menschenopfer, als die Aufforderung, Menschendurch Tieropfer zu ersetzen.
Aber als Isaak und Abraham aufbrechen, sagt Letzterer, er wolle Gott ein Brandopfer bringen, und auf dem Weg zu dem Berg, auf dem das grausame Ritual stattfinden soll, fragt Isaak, wo denn das Lämmlein sei, das geopfert werde. Wie kann Isaak so selbstverständlich nach dem Opfertier fragen? Isaaks Frage
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