Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
setzt die Existenz des Tieropfers doch bereits voraus, und daher ist uns der Fluchtweg in die Verharmlosung versperrt.
Auch die zweite, gern genommene christliche Ausrede, es handle sich hier um das überwundene Gottesbild des Alten Testaments, funktioniert nicht. Jesus hat keinen neuen Gott gelehrt, auch nie gegen diese Geschichte von Abraham und Isaak polemisiert. Sein Gott war der Gott des Alten Testaments. Er ist auch der Gott der Christen, der sich nicht selbst dementiert. Im Gegenteil: Der neutestamentliche Gott überbietet Abraham sogar. Ihm bleibt das Sohnesopfer im letzten Moment erspart. Als Gott sieht, dass Abraham grundsätzlich bereit dazu ist, ist Gott zufrieden und lässt einen Engel ausrichten, es genüge. Gott will das Opfer nicht wirklich, sondern nur den Gehorsam, den ganzen Menschen Abraham.
Seinen eigenen Sohn aber, Jesus, rettet er nicht vor dem Kreuz. Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht ein göttliches Opfer. Darum ist die Geschichte von Abraham und Isaak tödlich ernst gemeint. Es handelt sich um eine Prüfung des Glaubens. Gott will wissen, wie ernst es Abraham mit seinem Gottesgehorsam ist.
Abraham besteht die Prüfung und wird gerade deshalb zum Stammvater des Glaubens. Abrahams Gehorsam unterscheidet den Glaubenden von den normalen Menschen. Abraham folgt Gott selbst noch dorthin, wo jeder vernünftige Mensch, wie Kant, sagen würde: bis hierher und nicht weiter. Das, was uns diesen Mann als so monströs erscheinen lässt, wird zum Qualifikationsmerkmal der göttlichen Erwählung – eine größere Provokation für moderne Menschen ist kaum denkbar.
Opferbereitschaft und blinder Gehorsam, Kadavergehorsam, das allein scheint diesen Gott mehr zu interessieren, als Vernunft, Selbstbestimmung, Verantwortung, Vaterliebe. In solch einem Gott meinen wir geradezu das Gegenteil dessen zu erkennen, was eine guten, liebenden, barmherzigen Vater und eine aufgeklärte, vernünftige Religion ausmacht. Der molochartige Kult ums Opfer erscheint uns modernen Menschen zutiefst fremd, archaisch, falsch und lebensfeindlich. Wir denken dabei eher an den Missbrauch von Religion, Fanatismus, Sektierertum, Islamismus und religiösen Wahn als an die Botschaft der Liebe. Abraham erscheint uns als ein Mensch aus prähistorischer Zeit, der uns nichts mehr zu sagen hat.
Archaisch? Prähistorisch?
In den Jahren 1813/14, ein Jahrzehnt nach Kants Tod, wurde in Deutschland zum ersten Mal in den so genannten Befreiungskriegen von Napoleons Herrschaft der Soldatentod auf dem «Feld der Ehre» gepriesen. Noch im Zweiten Weltkrieg galt es als süß, fürs Vaterland zu sterben. Erst heute scheint die Zeit der Verherrlichung des Opfers fürs Vaterland auf dem «Feld der Ehre» vorbei zu sein, zumindest in Europa.
Aber der Opferkult geht munter weiter in modernen Gewändern. Manager treiben Raubbau an ihrer Gesundheit, opfern sich selbst und ihre Mitarbeiter im Krieg um Marktanteile, opfern auch ihre Familie und ihre Freunde, wenn sie sich mit Haut und Haar ihrem Unternehmen und ihrer Karriere verschrieben haben. Leistungssportler opfern ihre Jugend, manchmal die Kindheit, oft ihre Gesundheit – für eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen, für Werbeverträge und materiellen Reichtum. Und nicht selten sind es die ehrgeizigen Eltern, die ihr Kind Monat für Monat ins Training treiben, um sich einen vagen Traum von Ruhm und Geld zu erfüllen und die eigenen Sehnsüchte zu befriedigen. Wir opfern die Umwelt für unseren Wohlstand, und neuerdings sogar unsere Zukunft: Weil uns der Kampf um Wettbewerbsfähigkeit rund um die Uhr derart auf Trab hält, dass wir keine Zeit mehr zum Kinderkriegen und -erziehen haben, sterben wir aus. So bringen wir uns selbst als Opfer auf dem Altar des globalen Wettbewerbs dar.
Diese Hinweise auf die modernen Opfer, die wir heute zu bringen bereit sind, lösen das Rätsel des abrahamitischen Glaubens noch nicht, holen uns aber von jenem Ross, auf dem wir Aufgeklärte zu sitzen meinen. Es scheint allemal vernünftiger, dem «archaischen» Gott Abrahams Tribut zu zollen als den modernen Götzen des Wettbewerbs.
Die Geschichte von Abraham und Isaak erzählt natürlich nicht eine Begebenheit, die sich wirklich ereignet hat, sondern malt ein Bild, das uns vor Augen führt, was Glaube an Gott heißt, welch Konsequenzen er hat und in welche Einsamkeit der Glaubende in Grenzsituationen geraten kann. Die Geschichte zeichnet jenen erschreckend radikalen Unbedingtheitsanspruch Gottes, wie
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