Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Geld verteilen, Gesetze machen und deren Einhaltung durchsetzen. Die Bergpredigt aber taugt nicht als Anleitung für einen christlichen Etat, und in Gesetze gießen lässt sie sich schon deshalb nicht, weil sie doch die Überwindung aller Gesetze bedeutet, auch die Überwindung des Staates.
Das Liebesgebot mitten in der Welt erfüllen zu wollen, wäre ebenfalls Unsinn. Das kann niemand aus eigener Kraft, und wer es dennoch versucht, weil er den Ehrgeiz hat, ein Heiliger werden zu wollen, wird meist nur ein unangenehmer, überheblicher, herrschsüchtiger Zeitgenosse, der seine Umgebung durch Sanftheit, Aufopferung und Altruismus terrorisiert.
Die Kraft zur Liebe muss man sich schenken lassen. Sie wächst einem zu durch den Glauben, aber nicht zu Hause im stillen Kämmerlein, nicht im Büro und nicht draußen in der normalen Welt, sondern nur in jener Exklave namens Reich Gottes, das sich nach dem Willen Jesu in der Gemeinde manifestieren soll. Klappen kann das aber nur, wenn es dort tatsächlich liebende Menschen gibt. Liebe, die Realisierbarkeit der Bergpredigt, hängt an der Existenz neutestamentlich verfasster Gemeinden. Die Liebe und die Gemeinde sind zwei Seiten derselben Medaille, die eine bedingt die andere, aber nur dort, wo die Gemeinde wahrhaftig ist. Gemeinden, in denen lediglich Vereinsmeierei betrieben wird, sind nicht Teil dieser Exklave, sondern ein religiös getünchter Teil der normalen Welt.
Das bedeutet nicht, dass Kirchen und Gemeinden als Christenvereine überflüssig sind. Es kann dort viel Gutes geschehen. Funktionierende Kirchengemeinden sind in einer orientierungslosen, zerfallenden Gesellschaft nötiger denn je. Sie können zahlreiche Nöte lindern, gesellschaftliche Schäden reparieren, politisch darauf Einfluss nehmen, dass die Ärmsten der Armen nicht ganz dem Vergessen anheimfallen.
Vor allem aber sind Kirchen und Gemeinden als Institutionen und Körperschaften des öffentlichen Rechts nötig, um die alten Texte der Bibel durch die Zeiten zu tragen. Solange sie gelesen werden, so lange erhält sich die Sehnsucht nach dem wirklichen Reich Gottes, in dem Nöte nicht gelindert, sondern für alle Zeiten beseitigt werden. Solange es die christliche Vereinsmeierei gibt, so lange besteht die Chance, dass immer wieder Menschen nachwachsen, die den Exodus riskieren und sich mit ihrer ganzen Existenz auf jenes Wagnis einlassen, das Jesus als Reich Gottes bezeichnete.
In jenem Reich konnten die Jünger Jesu einander lieben, weil sie zuerst von Jesus geliebt wurden. Nach seinem Tod konnten sie die Liebe weitergeben an andere, und dabei machten alle miteinander die beglückende Erfahrung, wie revolutionär schön das Leben ist, wenn jeder seine Rüstung fallen lässt. Dann muss plötzlich keiner mehr fürchten, übervorteilt zu werden. Man muss nicht mehr um seine Stellung kämpfen, nicht mehr permanent darauf achten, dass einem jemand die Butter vom Brot nimmt, und nicht mehr an seinen eigenen Vorteil denken, weil die anderen daran denken. Die ganze Kraft, die man draußen in der Welt braucht, um sich gegen die anderen zu behaupten, die ganze Energie, die wir für den permanenten Konkurrenzkampf verheizen, steht jetzt zur Verfügung für den Aufbau einer anderen Welt. Dort werden dann tatsächlich Kranke gesund und Gesunde erst gar nicht krank, die Blinden erlangen ihr Augenlicht zurück, die Verstummten ihre Sprache, und die Traurigen werden wieder froh.
Diese Erfahrung verwandelt den Menschen von Grund auf, bis ins Unbewusste hinein, ermöglicht jene sehende, erkennende Liebe, die nichts mit Eros, Sex, Ehe oder Elternliebe zu tun hat. Es ist Nächstenliebe, Agape, die höchstentwickelte Form der Liebe, von der Paulus sagt: Sie ist langmütig und gütig, beneidet nicht, prahlt nicht, bläht sich nicht auf, sucht nicht das Ihre, lässt sich nicht erbittern, rechnet das Böse nicht zu, freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, freut sich aber der Wahrheit, erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles, und hört nimmer auf (1 Korinther 13, 4–8). Es ist jene Liebe, die den Menschen sieht, wie er wirklich ist, ihn trotzdem annimmt und ihn dadurch so von Grund auf verwandelt, dass er plötzlich annehmbar, ja liebenswert ist.
So eine Verwandlung des Menschen geschieht nicht über Nacht. Die vielen Glieder, die ihr Leben miteinander teilen und einen Leib Christi bilden, müssen wirklich vorhanden und in der Lage sein, den neuen Staatsbürger in das Leben im Reich Gottes einzuführen,
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