Das Dach kommt spaeter
Sherlock-Holmes-Blick aufgesetzt, der uns Kindern früher signalisierte:
Ich weiß, was du heute Nachmittag getan hast!
Leugnen war bei ihr völlig zwecklos. Dass meine Schwestern und ich so knochenehrlicheMenschen geworden sind, liegt nicht zuletzt an der sensationellen Spürnase unserer Mama. Die in diesem Moment eindeutig Witterung aufgenommen hatte. Falls mein Vater in seiner Geschichte tatsächlich eine Kleinigkeit unterschlagen – oder sagen wir besser: vergessen – hatte, so war jetzt der Augenblick gekommen, dieses Detail nachzureichen. Aber Baba hatte entweder seine Karten auf den Tisch gelegt, oder er glaubte, seine Frau würde ihm nicht auf die Spur kommen. Nach fast vierzig Ehejahren hätte er sie besser kennen müssen.
»Das gesamte Gelände gegenüber Roberts Grundstück war doch früher eine Laubenpieperkolonie, oder?«
Baba nickte.
»Und wurde erst vor wenigen Jahren als Bauland ausgewiesen. Richtig?«
Erneutes, diesmal schon vorsichtigeres Nicken.
»Und als wir letzten Sommer zu Roberts Sechzigstem eingeladen waren, stand da ein massiver Steinbau, den Robert immer ›Gartenhütte‹ nannte. Habe ich das richtig in Erinnerung?«
Plötzlich fiel Baba ein, was er zu berichten vergessen hatte: »Stimmt. Steinbau muss abgerissen werden.«
Mein Schwiegervater fasste sich erschrocken ans Herz. Oder wollte er nur die in seiner Jacke steckende Brieftasche schützen?
»Ha noi, dann relativiert sich der Preis aber. So ein Abriss goht richtig ins Geld.«
Würde der gerade noch zum Greifen nah scheinende Erwerb des Traumbaugrundes durch diese neue Information wieder in weite Ferne rücken? Ein spannender Moment! Solche Alles-oder-nichts-Situationen, in denen das zuvor so mühsam Erreichte krachend einzustürzen drohte, kannte ich zur Genüge aus meinen heißgeliebten Marvel-Comics.Dies war der Moment, in dem alle Welt nach dem Superhelden schrie. Er allein konnte durch seine übermenschlichen Kräfte das bedrohte Universum vor der totalen Zerstörung bewahren. Hatte ich in den vielen Jahren intensiven Comicstudiums meine Lektion gelernt? Ja! Selbstverständlich! Ohne dass meine für Superhelden unempfänglichen Angehörigen es merkten, warf ich meine »Unscheinbarer Alltagsmensch«-Verkleidung ab und wurde im Cape-Umdrehen zu »Multitool«, dem Mann für alle Fälle. Swooooschhhh, sauste ich mit Schallgeschwindigkeit ins Zentrum des Geschehens und sprach die alles entscheidenden Worte – jene Zauberformel, die uns das beste Grundstück aller Zeiten sicherte:
»Keine Sorge, das wird nicht teuer. Den Abriss erledigen Baba und ich.«
8. Kapitel
Zwei schwere Geburten
Zu behaupten, mein Vater wäre von seiner Zwangsbestellung zum Abrisshelfer angetan gewesen, wäre die Falschaussage des Jahrtausends. Aber der in südlichen Ländern übliche Familienkodex gebietet nun einmal, füreinander einzustehen. Darüber hinaus hatten wir gerade erst ein gemeinsames Extremabendessen überlebt, was – wie man aus dem
Dschungelcamp
weiß – das Zusammengehörigkeitsgefühl enorm stärkt. Deshalb folgte meiner Ansage keine ernsthafte Diskussion. Nachdem Ann-Marie und ich samt Anhang Roberts Grundstück besichtigt und alle Anwesenden es für gut befunden hatten, wurden bald darauf die notwendigen Formalitäten abgewickelt. Pünktlich zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag unterschrieb ich den ersten Grundstückskaufvertrag meines Lebens und war nun also stolzer Eigentümer eines wunderbar gelegenen Stücks Land. Sowie einer sinnlos das Gelände blockierenden und dazu noch grottenhässlichen Ruine. Egal, die Voraussetzung für den Baubeginn war geschaffen, also gab es für mich keine Ausrede mehr. Ich musste kreativ werden und das versprochene Traumhaus entwerfen. Zwar hatte ich mein vorlautes Mundwerk und die mit meinem Schwiegervater geschlossene Wette zu diesem Zeitpunkt sicher schon öfter verflucht als Bushido seinen Bambi, aber Jammern half ja nicht. Eswar auch nicht so, dass ich mir den Entwurf nicht zutraute. Schließlich kannte ich als Kind kein größeres Vergnügen, als mit meinen Lego-Steinen neue Städte in die Welt zu setzen. Was sage ich Städte, ich schuf neue Welten; was sage ich Welten, es waren virtuelle Paralleluniversen. Und als die beginnende Pubertät das Lego-Fieber ein wenig senkte, infizierte ich mich mit dem Bastel- und Heimwerkervirus. Mein Jugendzimmer war vier Jahre lang eine einzige Baustelle, ohne Helm nicht betretbar. Mit Helm eigentlich auch nicht. Denn wegen meiner
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