Das Dach kommt spaeter
missbraucht zu werden. Mit fast hundert Sachen raste er durch den Großstadtverkehr dem Klinikum Neukölln entgegen. Als wir dort ankamen, saßen unsere Eltern schon in der Empfangshalle. Waren sie mit dem Privatjet gekommen? Oder hatten sie die letzten Nächte bereits vorsorglich im Klinikum campiert? Zuzutrauen war ihnen alles.
Kaum sahen sie uns kommen, rannten sie uns so aufgeregt entgegen, als wäre dies die erste Geburt seit den glorreichen Tagen von Bethlehem. Lediglich Baba zog es vor, das Spektakel in meditativer Ruhe aus seiner Sitzecke heraus zu betrachten. Schwiegermama riss in einer ersten Amtshandlung ihren Enkel von meinen Schultern und reichte ihn ihrem Mann weiter, verbunden mit dem Auftrag: »Bring ihn zu Murats Schwester. Kinder habe bei einer Geburt nix verlore. Ann-Mariele, immer schön atme«, empfahl sie gleichzeitig. Ein wertvoller Tipp, vor allem da ihre Tochter ohnehin schon hyperventilierte.
»Ruhig, Leute, ruhig«, mahnte ich eindringlich. »Das ist eine Geburt, kein Notfall.« Niemand hörte auf mich. Alle zogen und zerrten nur an der armen Ann-Marie. Ich war für meine Schwiegermutter nur insofern von Interesse, als sieversuchte, mir auch noch den Koffer zu entwenden. »Moment«, wehrte ich sie ab. »Ich muss erst noch meine Zeichensachen aus der Seitentasche nehmen.«
Gisela war schockiert. Sie vergaß sogar zu schwäbeln. »Murat! Wie kannst du nur? Das ist eine Geburtsklinik! Kein Architekturbüro! Hast du kein bisschen Respekt vor dem Wunder des Lebens?«
»Doch, aber es muss endlich
raus
…« Anscheinend war ich doch nicht mehr so klar im Kopf, wie ich gedacht hatte. Die Situation nahm mich wohl stärker mit als gedacht. Wie im Drogenrausch bekannte ich: »Was ich hier in der Hand halte, wird dem Kind, das jetzt in die Welt tritt, ein Zuhause geben, eine Hütte, ein Heim! Und ob ihr es wahrhaben wollt oder nicht: Ich bin auch
schwanger!
Wegen euch! Wer hat mir denn den
Samen
eingepflanzt von wegen ›Deine Familie braucht ein Haus‹? Das wart ihr! Seitdem bin ich
bauschwanger
. Mit allem, was dazugehört. Beim Aufwachen ist mir hundeübel. Später bin ich plötzlich happy und danach gleich wieder deprimiert, weil ich nicht weiß, wie die ganze Sache finanziell funktionieren soll. Ich nehme ständig zu, und obenrum fallen mir die Haare aus. Untenrum übrigens auch. Und das alles nur, weil in mir seit Monaten dieses
Ding
wächst«, mit fiebrigem Blick reckte ich meinen Zeichenblock in die Höhe, »und ich schon längst über den Termin bin.«
Da hörte mir aber schon keines meiner Familienmitglieder mehr zu. Nur ein paar der vor der Kliniktür stehenden Raucher hatten sich von meiner irrwitzigen Tirade in die Eingangshalle locken lassen und fanden sie anscheinend anregender als die übliche Nikotinration. Eilig hechelte ich meiner Bagage hinterher, denn auf keinen Fall wollte ich Ann-Marie in dieser schweren Stunde alleinlassen. Cool wie Jean-Claude Van Damme enterte ich im Sturmlauf denKreißsaal, schaute mir das beginnende Spektakel wenige Sekunden lang an und – sackte ohnmächtig zusammen. So ist das nun einmal mit sensiblen Männern, die Frauen nicht leiden sehen können. Blut, Schweiß und Tränen sind nichts für uns. Wir geben uns mit den Ergebnissen der Prozedur zufrieden.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich neben Baba auf einer unbequemen Holzbank rechts neben der Tür zum Kreißsaal. Leider waren Ann-Maries Schmerzenslaute auch hier noch ziemlich klar zu hören. Um mich abzulenken, klappte ich meinen Zeichenblock auf.
Baba, dem das Gezeter ebenfalls deutlich sichtbar an die Nieren ging, ergriff die Chance, auf andere Gedanken zu kommen. »Zeig ma her, Junge«, deutete er auf die Mappe.
Ich reichte sie ihm rüber, und er legte sie auf einen kleinen Schemel vor uns, um den Grundriss, den ich am Abend zu Hause aufs Papier gebracht hatte, aufmerksam zu studieren.
»Was ist das? Hast du erste Etage nur Rand gemacht und Zimmer vergessen!«
Ich musste lachen. »Das ist eine Galerie, Baba.«
»Galerie Kaufhof, oder was? Willst du machen Basar für Hausbezahlung?«
Nahm er mich auf die Schippe? Es sah nicht so aus, denn er wirkte ehrlich verwirrt. »Nein, Baba. Eine Galerie ist ein umlaufender Gang im ersten Stock. Dadurch wird der Innenraum schön hoch. Ich finde das chic.«
»Papplapapp. Schick mick. Verschenkst du kostbaren Platz!«
»Baba, das hat Stil. Das ist sozusagen Luftraum.«
»Luftraum! Bist du Astronaut, oder was?«
In diesem kritischen Moment
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