Das Daemonenschiff
Odin begegnet wärst, dann wärst
du jetzt nicht mehr am Leben. Kein Sterblicher überlebt einen
Blick in sein Gesicht.«
»Ich schon«, antwortete Andrej, ohne Thure dabei aus den
Augen zu lassen. War der Nordmann bei dem Wort Sterblicher leicht zusammengefahren? »Und dein Bruder ebenfalls. Habe
ich recht?«
Thure schwieg. Aber dieses Schweigen war Antwort genug.
»Das ist nicht wahr«, flüsterte Björn. »Thure, sag, dass das –«
»Er hat sich uns als Odin vorgestellt«, murmelte Thure, und
sein Blick füllte sich wieder mit jener schrecklichen Leere, die
Andrej schon einmal darin erblickt hatte. »Er hatte schreckliche
Macht. Damals haben wir geglaubt, er wäre Odin selbst.«
»Aber … aber gerade hast du gesagt, ihr wärt dort gewesen!«,
krächzte Björn. »Du hast gesagt, ihr hättet Walhalla gesehen und
–«
»Vielleicht waren es falsche Götter«, murmelte Thure. Er
schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß es nicht, Björn.«
»Der, mit dem ich gesprochen habe«, fügte Andrej hinzu, »war
kein Gott, dessen bin ich sicher. An ihm war schon etwas …
Besonderes, aber ich kann dir versichern, Björn, dass er kein
Gott war. Nur ein böser, alter Mann, der sich für göttlich hält.«
Auch jetzt antwortete niemand auf seine Worte. Die beiden
Brüder sahen ihn an – der eine erschrocken, der andere verblüfft
–, während Abu Dun plötzlich nicht mehr verärgert, sondern
nachdenklich wirkte.
»Dann sind wir verloren«, seufzte Björn schließlich. »Sie
werden wiederkommen und uns alle vernichten.«
Abu Dun wollte etwas sagen, doch Andrej brachte ihn mit
einer raschen Geste zum Schweigen. Er überlegte sich seine
nächsten Worte sehr genau. »Ihr glaubt an all diese Götter, habe
ich recht?«, begann er.
Björn nippte nun doch an seinem Becher, verschluckte sich
und hustete krampfhaft. »Sie sind unsere Götter«, verbesserte er
ihn, nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war und
in dem vergeblichen Versuch, würdevoll zu klingen. »Sie haben
die Welt erschaffen und die Menschen. Sie wachen über uns und
werden da sein, bis Ragnarök gekommen ist.«
»Diese Geschichte kommt mir bekannt vor«, meldete sich Abu
Dun zwar mit unbewegtem Gesicht, aber spöttisch zu Wort.
»Irgendwie wird sie überall auf der Welt erzählt … mit anderen
Namen, aber im Kern ist sie allerorten gleich.«
»Weil es die Wahrheit ist!«, beharrte Björn. »Die Götter –«
»– haben die Menschen und alles auf dieser Welt erschaffen«,
fiel ihm Andrej ins Wort, sanft und mit einem warnenden
Seitenblick zu Abu Dun. »Verzeih Abu Dun, König. Er wollte
gewiss nicht eure Götter verspotten.«
»Wollte ich doch«, knurrte Abu Dun, leise und auf Arabisch.
Andrej beachtete ihn nicht.
»Was er sagen wollte, ist«, fuhr er unbeeindruckt fort, »dass es
seltsame Götter wären, die ein ganzes Volk für den Fehler eines
Kindes büßen lassen.« Er deutete auf Thure. »Du hast ihn
gehört. Er war damals noch ein Knabe, der nicht wissen konnte,
dass er etwas Falsches tut. Ich glaube nicht, dass dieser Mann,
den ich heute Morgen getroffen habe, der richtige Odin ist.
Wahrscheinlich hast du recht, Björn: Wäre er es gewesen, hätte
ich dieses Treffen nicht überlebt.«
»Und er würde uns nicht fürchten«, fügte Abu Dun hinzu.
»Fürchten?«, murmelte Björn verstört.
»Warum wohl sollte er Andrej und mich von hier fortschicken,
wenn nicht, weil er uns fürchtet?«, fragte Abu Dun. Er schüttelte
heftig den Kopf und deutete auf Andrej. »Er hat recht, Björn! Er
ist ein verdammter Dummkopf, mir nichts davon gesagt zu
haben, denn dann wären wir gemeinsam aufgebrochen, und euer
sogenannter Gott würde jetzt vielleicht schon in Ketten vor dir
knien. Wir sind Männern wie ihm schon begegnet, in anderen
Teilen der Welt.«
Björns Augen wurden noch größer. »Ihr … ihr seid … Göttern begegnet?«, hauchte er.
»Keinen Göttern«, verbesserte ihn Andrej. »Nur solchen, die
sich dafür ausgaben.«
»Solchen wie euch?«, fragte Thure. Die Worte hätten Andrej
wütend machen sollen, aber sie taten es nicht. Er hörte nicht die
mindeste Spur von Vorwurf darin.
»Du bist ein kluger Mann, Thure. Ich glaube sogar, klüger, als
ich bisher angenommen habe, denn nur ein wirklich kluger
Mann weiß die Vorteile zu schätzen, sich dümmer zu geben als
er ist. Aber du solltest dann und wann auf deine Großmutter
hören.«
Thure sah ihn fragend an.
»Auch Werdandi ist eine sehr kluge Frau«, fuhr Andrej
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