Das Darwin-Virus
Schwimmer in einem Wasserballett und bildeten wunderbare Muster. Diese Muster hatten nichts mit Krankheit und Tod zu tun, aber sehr viel mit den Kreisläufen des menschlichen Lebens – oder überhaupt jeden Lebens.
Ihr blieben nur knapp zwei Wochen: Dann würden Cross’ Wissenschaftler den ersten potenziellen Impfstoff vorstellen, einen von – nach der letzten Zählung – zwölf, die im ganzen Land bei Americol und anderswo entwickelt wurden. Kaye hatte unterschätzt, wie schnell man bei Americol arbeiten konnte – und sie hatte überschätzt, inwieweit man sie auf dem Laufenden halten würde.
Noch immer bin ich nichts als eine Galionsfigur , dachte sie.
In der Zwischenzeit musste sie herausfinden, was sich eigentlich abspielte – was SHEVA tatsächlich war. Was mit Mrs. Hamilton und den anderen Frauen in der NIHKlinik letztlich geschehen würde.
Auf der zwanzigsten Etage stieg sie aus, fand die Wohnung Nummer 2011, steckte den elektronischen Schlüssel ins Schloss und öffnete die schwere Tür. Zur Begrüßung wehte ihr ein Schwall sauberer, kühler Luft entgegen, die nach neuen Teppichen und Farbe, aber auch nach etwas BlumigSüßem roch. Sanfte Musik setzte ein: Debussy – an den Namen des Stückes konnte sie sich nicht erinnern, aber es gefiel ihr sehr.
Auf dem niedrigen Regal im Flur stand ein üppiger Strauß in einer Kristallvase: mehrere Dutzend gelbe Rosen.
Die Wohnung, ausgestattet mit eleganten hölzernen Accessoires, hübsch mit zwei Sofas und einem Sessel in Wildleder und altgoldenem Stoff möbliert, wirkte hell und heiter. Debussy inbegriffen.
Sie ließ die Tasche auf eine Couch fallen und ging in die Küche.
Edelstahlkühlschrank, Herd, Geschirrspülmaschine, Arbeitsplatten aus grauem Granit mit rosa Marmoreinfassung, teure, edelsteinartige Niedervoltlampen, die den Raum mit kleinen, diamantenen Leuchtfeuern füllten …
»Verdammt noch mal, Marge«, sagte Kaye halblaut. Sie brachte die Tasche ins Schlafzimmer, zog den Reißverschluss auf, holte Röcke, Blusen und ein Kostüm heraus, öffnete den Kleiderschrank und starrte die Garderobe an. Hätte sie nicht schon zwei von Marges attraktiven jungen Begleitern kennen gelernt, sie wäre jetzt sicher gewesen, dass ihre Chefin nicht nur beruflich ein Auge auf sie geworfen hatte. Schnell sah sie die Kostüme, Blazer, Seidenund Leinenblusen durch, und dann fiel ihr Blick nach unten auf das Schuhgestell: mindestens acht Paare für alle Gelegenheiten –
sogar Wanderstiefel. Jetzt reichte es ihr.
Kaye setzte sich auf die Bettkante und gab ein tiefes, zitterndes Seufzen von sich. Irgendwie wuchs ihr gesellschaftlich und wissenschaftlich alles über den Kopf. Sie wandte sich um und sah die WhistlerReproduktionen über der Ahornkommode, die wunderschön in messingbeschlagenes Ebenholz gerahmte orientalische Schriftrolle, die über dem Bett hing.
»Kleines Luxusweibchen in der großen Stadt.« Sie spürte, wie ihr Gesicht sich vor Ärger verzog.
Das Handy in ihrer Handtasche klingelte. Sie sprang auf, ging ins Wohnzimmer, holte es heraus, meldete sich.
»Kaye, hier ist Judith.«
»Du hattest Recht«, sagte Kaye unvermittelt.
»Wie bitte?«
»Du hattest Recht.«
»Ich habe immer Recht, meine Liebe. Das weißt du doch.« Judith machte eine wirkungsvolle Pause, und jetzt wusste Kaye, dass sie etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Du hast mich nach Transposonaktivität in meinen SHEVAinfizierten Leberzellen gefragt.«
Kaye spürte, wie ihr Rückgrat steif wurde. Das war der Schuss ins gar nicht so Dunkle, den sie zwei Tage nach ihrem Gespräch mit Dicken abgefeuert hatte. Sie hatte über den Lehrbüchern gebrütet und sich bei einem Dutzend Artikel aus sechs verschiedenen Fachzeitschriften erholt. Sie war ihre Notizbücher durchgegangen, in denen sie kleine, verrückte Augenblicksspekulationen festgehalten hatte.
Sie und Saul hatten zu den Biologen gehört, nach deren Vermutung die Transposons – bewegliche DNAAbschnitte im Genom –
weit mehr sind als nur egoistische Gene. In einem Notizbuch hatte sie volle zwölf Seiten über die Möglichkeit geschrieben, dass es sich in Wirklichkeit um sehr wichtige Regulatoren des Phänotyps handelt, die nicht egoistisch, sondern altruistisch sind und unter bestimmten Umständen den Weg weisen könnten, auf dem Proteine zu lebendem Gewebe werden. Die vielleicht den Weg, auf dem Proteine eine lebende Pflanze oder ein Tier entstehen lassen, ver-
ändern. Retrotransposons ähnelten stark den Retroviren –
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