Das Darwin-Virus
so viele Millionen Jahre für seine Evolution gebraucht hat, wie kann Americol dann schon nach dreimonatiger Forschung die Erprobung eines Impfstoffes ankündigen? Sind Sie klüger als Mutter Natur?«
Für kurze Zeit erhob sich im Saal eine Mischung aus Gelächter und geflüsterten Kommentaren. Man konnte die Spannung mit den Händen greifen. Die meisten jungen Frauen trugen Gesichtsmasken, obwohl sich diese Vorsichtsmaßnahme als unwirksam erwiesen hatte. Andere lutschten besondere PfefferminzKnoblauchpastillen, die angeblich die Ansteckung mit SHEVA verhindern sollten. Der charakteristische Geruch drang bis zu Kaye auf die Bühne.
Jackson ging zum Mikrofon. Der Fünfzigjährige sah aus wie ein rüstiger Rockmusiker: auf eine lässige Art attraktiv, mit oberflächlich gebügeltem Anzug und einer ungebändigten Frisur, die an den Schläfen grau wurde.
»Wir haben mit unseren Arbeiten schon einige Jahre vor der Herodes-Grippe begonnen«, sagte er. »Für die HERVSequenzen haben wir uns schon immer interessiert, denn wie Sie schon angedeutet haben, steckt darin eine ganze Menge Klugheit.« Er legte eine wirkungsvolle Pause ein, gönnte dem Publikum ein leichtes Lächeln und zeigte so seine Stärke, indem er Bewunderung für den Feind bekundete. »Vor allem aber haben wir in den letzten zwanzig Jahren gelernt, auf welche Weise die meisten Krankheiten ihr schmutziges Werk tun, wie die Erreger aufgebaut sind, wo man sie packen kann. Wir haben leere SHEVAPartikel konstruiert, die Versagerquote des Retrovirus damit auf hundert Prozent gesteigert und ein ungefährliches Antigen hergestellt. Aber streng genommen sind die Partikel nicht leer. Wir beladen sie mit einem Ribozym, einer Ribonucleinsäure mit Enzymaktivität. Das Ribozym dockt innerhalb der infizierten Zelle an mehrere noch nicht zusammengefügte Bruchstücke der SHEVARNA an und spaltet sie. SHEVA wird also zum Transportsystem für Moleküle, die seine eigene krankheitserzeugende Aktivität hemmen.«
»Sir …«, versuchte der CNN-Reporter zu unterbrechen. »Ich bin mit der Antwort auf Ihre Frage noch nicht fertig«, sagte Jackson. »Sie war nämlich wirklich gut.« Das Publikum kicherte. »Bisher hatten wir das Problem, dass der menschliche Organismus kaum auf das SHEVAAntigen anspricht. Den Durchbruch haben wir erzielt, als wir herausfanden, wie wir die Immunantwort verstärken können. Dazu heften wir Glycoproteine anderer Krankheitserreger an, gegen die der Organismus automatisch eine starke Abwehrreaktion in Gang setzt.«
Der CNN-Reporter wollte eine weitere Frage anschließen, aber Nilson war schon beim Nächsten auf ihrer langen Liste. Der junge Korrespondent der OnlineRedaktion von SciTrax erhob sich.
»Noch einmal an Dr. Jackson. Wissen Sie, warum wir so anfällig für SHEVA sind?«
»Nicht alle Menschen sind anfällig. Bei Männern beobachten wir eine starke Immunreaktion auf SHEVAPartikel, die sie nicht selbst erzeugen. Das ist der Grund für den Verlauf der Herodes-Grippe bei Männern – eine kurze Angelegenheit von etwa achtundvierzig Stunden, wenn überhaupt. Frauen dagegen sind fast durchweg anfällig für die Infektion.«
»Ja, aber warum gerade Frauen?«
»Wir gehen davon aus, dass SHEVA eine unglaublich langfristige Strategie verfolgt, in der Größenordnung von Jahrtausenden.
Es dürfte das erste bekannte Virus sein, das sich mit seiner eigenen Fortpflanzung nicht auf das Wachstum von Individuen stützt, sondern auf die Zunahme von Populationen. Eine starke Immunantwort auszulösen, würde seinen Zielen entgegenstehen, und deshalb taucht SHEVA nur dann auf, wenn eine Population unter Stress zu stehen scheint oder wenn ein anderer Auslöser hinzukommt, den wir noch nicht kennen.«
Als Nächster war der Wissenschaftskorrespondent der New York Times an der Reihe. »Dr. Pong und Dr. Subramanian, Sie haben sich auf die Erforschung der Herodes-Grippe in Südostasien spezialisiert, wo bisher über mehr als hunderttausend Fälle berichtet wurde. In Indonesien hat es sogar schon Unruhen gegeben. Letzte Woche kursierte ein Gerücht, wonach es sich um ein anderes Provirus handelt …«
»Völlig falsch«, sagte Subramanian mit einem höflichen Lächeln.
»SHEVA ist bemerkenswert einheitlich. Darf ich Sie ein wenig korrigieren? Als Provirus bezeichnet man VirusDNA, die in das genetische Material des Menschen eingebaut ist. Sobald sie ausgeprägt wird, handelt es sich einfach um ein Virus oder Retrovirus, in diesem Fall allerdings um ein sehr
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