Das Darwin-Virus
wir nichts anderes tun, als noch mehr Geld für Anwälte auszugeben.«
»Nein. Diesmal gewinnt ihr«, sagte Champion. »Wir haben jetzt andere Sorgen. Viele unserer jungen Mütter haben die Herodes-Grippe.« Sie fuhr mit einer Hand über das Zeltdach. »Manche von uns dachten, es würde sich auf die großen Städte beschränken, auf die Weißen, aber wir haben uns geirrt.«
Im flackernden Feuerschein funkelten Menons Augen wie zudringliche kleine Kameralinsen.
»Das tut mir Leid, Sue«, sagte Ripper. »Meine Schwester hat auch die Herodes-Grippe.« Sie stand auf und legte Champion die Hand auf die Schulter. »Bleib’ noch ein bisschen. Wir haben heißen Kaffee und Kakao.«
»Nein, danke. Der Rückweg ist weit. Wir werden uns eine Zeit lang nicht mit den Toten aufhalten können. Wir müssen uns um die Lebenden kümmern.« In ihren Gesichtszügen ging eine kleine Veränderung vor. »Manche, die zuhören können, zum Beispiel mein Vater und meine Großmutter – die sagen, du hättest etwas Interessantes herausgefunden.«
»Grüße sie von mir, Sue«, sagte Ripper.
Champion musterte Mitch von oben bis unten. »Menschen kommen und gehen. Wir alle kommen und gehen. Anthropologen wissen das.«
»Allerdings«, sagte Mitch.
»Es den anderen zu erklären, wird schwierig werden«, sagte Champion. »Ich werde euch mitteilen, welche Entscheidungen unsere Leute wegen der Krankheit getroffen haben und ob sie ein Mittel dagegen kennen. Vielleicht können wir deiner Schwester helfen.«
»Danke«, sagte Ripper.
Champion sah sich in der Runde unter dem Zeltdach um, nickte energisch und zeigte dann mit ein paar kleineren Kopfbewegungen an, dass sie alles gesagt hatte und gehen wollte. Von dem stämmigen Praktikanten mit der Taschenlampe begleitet, stieg sie den Pfad zum Klippenrand hoch.
»Außergewöhnlich«, sagte Merton, dessen Augen immer noch funkelten. »Großartige Einsichten. Vielleicht sogar die Weisheit der eingeborenen Volksgruppen.«
»Nehmen Sie es nicht zu wörtlich«, sagte Ripper. »Sue ist ein lieber Mensch, aber was eigentlich los ist, weiß sie ebenso wenig wie meine Schwester.« Dann wandte sie sich zu Mitch. »Du liebe Güte, du siehst krank aus«, sagte sie.
Mitch fühlte sich tatsächlich ein wenig mulmig.
»Den gleichen Gesichtsausdruck habe ich bei Kabinettsmitgliedern gesehen«, warf Merton leise ein. »So sehen sie aus, wenn sie mit allzu vielen Geheimnissen vollgestopft sind.«
37
Baltimore
Kaye nahm ihre kleine Tasche vom Rücksitz des Taxis und zog ihre Kreditkarte durch das Lesegerät auf der Fahrerseite. Dann verrenkte sie sich den Hals, um Uptown Helix zu betrachten, das neueste Wohnhochhaus von Baltimore – dreißig Stockwerke, aufgetürmt über zwei breiten Vierecken mit Läden und Theatern, und alles im Schatten des BromoSeltzer Tower.
Auf dem Bürgersteig lagen Matschbrocken, Reste des morgendlichen Schneegestöbers. Kaye schien es, als würde der Winter ewig dauern.
Cross hatte ihr gesagt, die Wohnung in der zwanzigsten Etage sei vollständig möbliert, man werde ihre Habseligkeiten hinüberbringen, im Kühlschrank und in der Speisekammer werde sie etwas zu essen vorfinden, und unten habe sie in mehreren Restaurants ein Stammgästekonto: alles, was sie sich wünschte und brauchte, ein Zuhause nur drei Blocks von der AmericolFirmenzentrale entfernt.
Kaye meldete sich beim Pförtner der Bewohnerlobby an. Er lächelte, wie Diener reiche Leute anlächeln, und gab ihr einen Umschlag mit dem Schlüssel. »Es gehört mir nicht«, sagte sie.
»Geht mich nicht das Geringste an, Ma’am«, erwiderte er mit der gleichen fröhlichen Unterwürfigkeit.
Während sie mit dem eleganten Aufzug aus Stahl und Glas von der Halle mit den Geschäften zu den Wohnetagen hinauf fuhr, trommelte sie mit den Fingern auf den Haltegriff. Sie war allein in der Kabine. Ich bin beschützt, ich bin versorgt, ich bin mit einer Besprechung nach der anderen beschäftigt, ich habe keine Zeit zum Nachdenken. Ich frage mich, wer ich eigentlich noch bin.
Sie bezweifelte, dass ein Wissenschaftler sich schon einmal so hektisch gefühlt hatte wie sie. Durch die Unterhaltung mit Christopher Dicken an den CDC war sie auf ein Seitengleis geraten, das mit der eigentlichen Entwicklung einer SHEVATherapie recht wenig zu tun hatte. Hundert verschiedene Aspekte der Forschungsarbeiten, die sie seit ihrer Doktorandenzeit geleistet hatte, waren plötzlich an die Oberfläche ihres Denkens gestiegen, wirbelten durcheinander wie die
Weitere Kostenlose Bücher