Das Darwin-Virus
Samenzelle. Welche Symptome die Infektion damals hervorgerufen hat, wissen wir nicht. Irgendwie wurde das Provirus, der in unserer DNA versteckte Bauplan des Virus, im Laufe der Zeit zerstückelt, verändert oder ganz einfach zum Schweigen gebracht. Solche Abschnitte von RetrovirusDNA sind heute angeblich nur noch Trümmer. Aber vor drei Jahren habe ich die Vermutung geäußert, ProvirusFragmente in verschiedenen Chromosomen des Menschen könnten alle Teile eines aktiven Retrovirus erzeugen. Und wenn alle erforderlichen Protein- und RNAMoleküle in der Zelle herumschwimmen, könnten sie sich zu vollständigen, infektiösen Viruspartikeln zusammenlagern.«
»Und das hat sich als richtig erwiesen. Kühne wissenschaftliche Spekulationen, die der Erkenntnis von Tatsachen voraus sind …«
Was der Reporter sagte, bekam Mitch kaum mit. Er konzentrierte sich auf Langs Augen: Sie waren groß und immer noch misstrauisch, aber ihnen entging nichts. Sehr kühn. Die Augen einer Frau, die bestimmt schon einiges durchgestanden hatte.
Er schaltete den Fernseher aus und drehte sich im Bett auf die andere Seite, um zu schlafen und zu vergessen. Sein Bein schmerzte in dem langen Gipsverband.
Kaye Lang war im Begriff, sich ihre Lorbeeren zu verdienen, eine wichtige Runde im großen Spiel der Wissenschaft für sich zu entscheiden. Mitch dagegen hatte schon den kompletten Lorbeerkranz in der Hand gehabt … aber er war schlecht damit umgegangen, hatte ihn aus den Fingern gleiten lassen und für immer verloren.
Eine Stunde später weckte ihn energisches Klopfen an der Tür.
»Herein«, sagte er und räusperte sich.
Ein Pfleger in gestärktem Grün kam herein, begleitet von zwei Männern und einer Frau, alle nicht mehr ganz jung, alle konservativ gekleidet. Sie sahen sich im Zimmer um, als wollten sie mögliche Fluchtwege ausfindig machen. Der kleinste der beiden Männer trat einen Schritt vor, streckte die Hand aus und stellte sich vor.
»Ich bin Emiliano Luria vom Institut für Anthropologie«, sagte er. »Das hier sind meine Kollegen von der Universität Innsbruck, Herr Professor Friedrich Brock …«
Die Namen vergaß Mitch fast sofort wieder. Der Pfleger brachte zwei weitere Stühle aus dem Flur und stellte sich dann in Habachtstellung neben die Tür, wobei er die Arme verschränkte und die Nase wie ein Palastwächter hob.
Luria drehte die Lehne seines Stuhles nach vorn und setzte sich dann darauf. Seine dicken runden Brillengläser blitzten in dem grauen Licht, das durch die Fenstervorhänge drang. Er fixierte Mitch, ließ ein leises hm hören und starrte dann den Pfleger an.
»Wir kommen allein zurecht«, erklärte er. »Bitte gehen Sie. Es werden keine Geschichten an die Zeitungen verkauft, und es wird auf den Gletschern keine blöde Moorhuhnjagd nach Leichen geben.«
Der Pfleger nickte freundlich und verließ das Zimmer.
Dann bat Luria die Frau – sie war in mittleren Jahren, hager, mit strengem, energischem Gesicht und üppigen, zu einem Knoten gebundenen Haaren –, sie solle nachsehen, ob der Pfleger nicht lauschte. Sie ging zur Tür und spähte hinaus.
»Inspektor Haas aus Wien hat mir versichert, dass die Angelegenheit ihn nicht mehr interessiert«, sagte Luria zu Mitch, nachdem diese Formalitäten erledigt waren. »Es ist also eine Sache zwischen Ihnen und uns, und wenn wir irgendwelche Grenzen passieren müssen, werde ich mit den Italienern und Schweizern zusammenarbeiten.« Er zog eine große, zusammengefaltete Landkarte aus der Tasche, und Dr. Block oder Brock oder wie er auch heißen mochte, hielt Mitch eine Kiste mit mehreren Bildbänden über die Alpen hin.
»So, junger Mann«, sagte Luria, dessen Augen hinter den dicken Gläsern verschwammen, »jetzt können Sie uns helfen, den Schaden zu reparieren, den Sie am Gewebe der Wissenschaft angerichtet haben. Die Berge, in denen Sie gefunden wurden, sind uns nicht unbekannt. Nur einen Gebirgszug weiter wurde der richtige Eismensch gefunden. Seit Jahrtausenden gibt es dort ziemlich viel Verkehr, einen Handelsweg vielleicht oder Pfade für die Jäger.«
»Ich glaube nicht, dass sie sich auf einem Handelsweg befanden«, bemerkte Mitch. »Ich glaube eher, sie sind weggelaufen.«
Luria blickte auf seine Notizen. Die Frau rückte näher ans Bett.
»Zwei Erwachsene, in sehr gutem Zustand, abgesehen davon, dass die Frau am Bauch eine Art Verletzung hatte.«
»Eine Wunde von einem Speer«, sagte Mitch. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen im Zimmer.
»Ich
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