Das Darwin-Virus
Teller zwischen Kaffeetassen und Orangensaftgläsern auf dem kleinen Tisch hinter dem Haus ab. Die Terrasse war sonnenüberstrahlt, nach dem nächtlichen Gewitter war die Luft klar und wärmte angenehm. Es würde ein herrlicher Tag werden.
Mit jeder Stunde bei ihrem guten Saul schwand für Kaye die Verlockung der Berge. Sie brauchte nicht wegzugehen. Saul plauderte über die Geschehnisse bei EcoBacter, über seine Reise nach Kalifornien und Utah und dann nach Philadelphia, wo er bei ihren Kunden und Partnerfirmen Gespräche geführt hatte. »Unser Sachbearbeiter bei der FDA hat vier neue präklinische Tests in Auftrag gegeben«, sagte er sarkastisch. »Aber zumindest haben wir ihnen gezeigt, dass man feindliche Bakterien zur Konkurrenz um Ressourcen veranlassen und damit zwingen kann, chemische Waffen zu produzieren. Wir haben nachgewiesen, dass wir die Bacteriocine isolieren, reinigen und sowohl in großen Mengen als auch in abgeschwächter Form produzieren können – und dass sie sich dann wieder aktivieren lassen. Ungefährlich bei Ratten, ungefährlich bei Hamstern und Grünen Meerkatzen, wirksam gegen drei resistente Stämme von üblen Krankheitserregern. Wir sind Merck und Aventis so weit voraus, dass die uns nicht mehr in die Suppe spucken können.«
Bacteriocine sind chemische Substanzen, die von Bakterien produziert werden und andere Bakterien abtöten. Im rapide schwindenden Arsenal wirksamer Antibiotika stellen sie eine viel versprechende neue Waffe dar.
Kaye hörte begeistert zu. Die versprochenen Neuigkeiten hatte er ihr noch nicht erzählt; er bereitete den entscheidenden Augenblick auf seine eigene Weise vor und ließ sich dafür genüsslich viel Zeit. Kaye kannte die Masche und gönnte ihm nicht das Vergnügen, neugierig zu erscheinen.
»Aber damit nicht genug!«, fuhr er mit leuchtenden Augen fort, »Mkebe behauptet außerdem, dass wir bald einen Weg finden werden, um bei Staphylococcus aureus das ganze Befehls-, Kontroll- und Kommunikationssystem zuzukleistern. Wir greifen die kleinen Viecher aus drei Richtungen gleichzeitig an. Bum!« Er zog seine beredten Hände zurück und schlang sich wie ein zufriedener kleiner Junge die Arme um die Brust. Aber plötzlich schwang seine Stimmung um.
»So«, sagte er, und sein Gesicht wurde plötzlich ausdruckslos.
»Jetzt erzähl mir ohne Umschweife von Lado und dem Eliava-Institut.«
Einen Augenblick lang starrte Kaye ihn so bohrend an, dass ihr fast die Augen brannten. Dann senkte sie den Blick und sagte:
»Ich glaube, sie haben sich für die Zusammenarbeit mit jemand anderem entschieden.«
»Mit Mr. Bristol Myers-Squibb«, ergänzte Saul und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Verknöcherte Firmenhierarchie gegen junges Blut. Die machen einen Riesenfehler.« Er ließ den Blick über den Garten zur Bucht schweifen und blinzelte in Richtung der Segelboote, die in der Morgenbrise den Schaumkronen der Wellen auswichen. Dann trank er den Orangensaft aus und schmatzte dramatisch. Er wand sich regelrecht auf dem Stuhl, beugte sich nach vorn, fixierte sie mit seinen tiefgründigen grauen Augen und griff nach ihren Händen.
Jetzt kommt’s , dachte Kaye.
»Sie werden es bereuen. Wir werden in den nächsten Monaten viel zu tun haben. Die CDC haben gerade heute morgen die Nachricht veröffentlicht. Sie haben bestätigt, dass das erste lebensfähige endogene menschliche Retrovirus existiert. Sie haben nachgewiesen, dass es horizontal zwischen Menschen übertragen werden kann. Sie nennen es Scattered Human Endogenous Retrovirus Activation oder kurz SHERVA. Das R haben sie aus dramaturgischen Gründen weggelassen, dann wird daraus SHEVA. Guter Name für ein Virus, findest du nicht?«
Kaye sah ihn forschend an. »Im Ernst?«, fragte sie. »Es ist wirklich bestätigt?«
Saul grinste und breitete die Arme aus wie Mose. »Völlig. Die Wissenschaft rückt jetzt ins gelobte Land vor.«
»Was ist es? Wie wichtig ist die Sache?«
»Es ist ein Retrovirus, ein richtiges Monster, zweiundachtzig Kilobasen, dreißig Gene. Seine gag- und pol -Bestandteile liegen auf dem Chromosom 14, und env ist auf 17 angesiedelt. Die CDC sagen, es könne ein schwacher Krankheitserreger sein, und Menschen haben dagegen nur geringe oder gar keine Abwehrkräfte.
Deshalb konnte es sich so lange versteckt halten.«
Er legte seine Hand auf die ihre und drückte sie sanft. »Du hast es vorhergesagt, Kaye. Du hast die Gene beschrieben. Genau auf deinen Hauptkandidaten, ein zerstückeltes
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