Das Darwin-Virus
HERV-3, zielen sie ab, und sie nennen deinen Namen. Sie haben deine Artikel zitiert.«
»Wow«, sagte Kaye und erbleichte. Sie beugte sich über ihren Teller; in ihren Schläfen pochte das Blut.
»Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut«, sagte sie benommen.
»Genießen wir unser Privatleben, solange wir es noch können«, sagte Saul triumphierend. »Demnächst werden sämtliche Wissenschaftsjournalisten hier anrufen. Ich gebe ihnen zwei Minuten, damit sie ihre Adresskarteien durchsuchen und bei MedLine recherchieren können. Du wirst im Fernsehen auftreten, bei CNN, bei Good Morning America. «
Kaye konnte einfach nicht glauben, dass die Ereignisse eine solche Wendung genommen hatten. »Was für eine Krankheit verursacht es?«, konnte sie gerade noch fragen.
»Das weiß offenbar noch niemand so genau.«
In Kayes Geist überschlugen sich die Möglichkeiten. Wenn sie Lado im Institut anrief, wenn sie es Tamara und Zamphyra erzählte, dann würden sie es sich womöglich anders überlegen und sich mit EcoBacter zusammentun. Und Saul würde auch weiterhin der gute Saul bleiben, ein fröhlicher, produktiver Mensch.
»Du lieber Gott, da sind wir ja irrsinnig aktuell«, sagte Kaye, immer noch ein wenig verwirrt. Sie hob die Finger, la di da.
»Du bist aktuell, mein Schatz. Es ist deine Arbeit, und irrsinnig ist die bestimmt nicht.«
In der Küche klingelte das Telefon.
»Das wird die schwedische Akademie sein«, sagte Saul mit weisem Nicken. Er hielt das Medaillon in die Höhe, und Kaye biss ein Stück davon ab.
»Quatsch!«, sagte sie fröhlich und stand auf, um den Anruf entgegenzunehmen.
11
Innsbruck
Aufgrund seines neu erworbenen Bekanntheitsgrades, so zwielichtig sein Ruf auch sein mochte, hatte Mitch im Krankenhaus inzwischen ein Einzelzimmer erhalten. Ihm war es durchaus recht, den Bergsteigern zu entrinnen – allerdings scherte sich kaum jemand darum, wie er sich fühlte oder was er selbst dachte.
In den letzten beiden Tagen hatte ihn eine fast vollständige emotionale Lähmung befallen. Er sah sein Bild in den Fernsehnachrichten, auf BBC und Sky World ebenso wie in der Lokalzeitung, und das bewies, was er bereits wusste: Es war vorbei. Er war erledigt.
Einer Züricher Zeitung zufolge war er »der einzige Überlebende einer Bergexpedition von Grabräubern«. In München wurde er als »Kidnapper des VorzeitEisbabys« bezeichnet, und in Innsbruck hieß er einfach »Wissenschaftler und Dieb«. Alle gaben seine absurde Geschichte von den NeandertalerMumien wieder, die von der dienstbeflissenen Innsbrucker Polizei bekannt gemacht worden war. Und alle berichteten, er habe »im Nordwesten der USA Indianerknochen gestohlen«.
Allgemein beschrieb man ihn als verrückten Amerikaner, der eine Pechsträhne hatte und unbedingt Publicity brauchte.
Das Eisbaby hatte man der Universität Innsbruck übergeben, und dort wurde es von einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Herrn Professor Doktor Emiliano Luria untersucht. Luria selbst würde im Laufe des Nachmittags erscheinen, um sich mit Mitch über den Fund zu unterhalten.
Solange Mitch über Informationen verfügte, die sie brauchten, war er noch mit von der Partie – als eine Art Wissenschaftler, Forscher, Anthropologe. Er war mehr als ein Dieb. Die größere, tiefere Leere würde erst kommen, wenn er nicht mehr nützlich war.
Er starrte gerade mit ausdruckslosem Blick die Wand an, als eine ältere ehrenamtliche Krankenhausmitarbeiterin kam und ihm auf einem Servierwagen das Mittagessen brachte. Sie war eine fröhliche, zwergenhafte Frau, etwa einen Meter fünfzig groß, über siebzig, mit einem weisen Runzelgesicht. Ihr Deutsch kam schnell und mit Wiener Dialekt. Mitch verstand kaum etwas.
Die Frau faltete seine Serviette auseinander und steckte eine Ecke in seinen Schlafanzug. Dann presste sie die Lippen zusammen, lehnte sich zurück und sah ihn prüfend an. »Essen Sie«, riet sie ihm. Sie runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Dummer junger Amerikaner, wie? Mir ist egal, wer Sie sind. Essen Sie, sonst werden Sie noch kränker.«
Mitch griff nach der Plastikgabel, hob sie kurz in ihre Richtung und fing an, Huhn und Kartoffelpüree vom Teller zu nehmen.
Bevor die alte Frau ihn verließ, schaltete sie den Fernseher ein, der gegenüber dem Bett an der Wand hing. »Viel zu ruhig hier«, sagte sie und bewegte die Hand in seiner Richtung hin und her, als wollte sie ihm aus der Entfernung eine tadelnde Ohrfeige geben.
Dann schob sie den Servierwagen durch die
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