Das Dekameron
reden noch sie anzurühren, sondern zu gehen, sobald er wieder einigermaßen warm geworden wäre. Salvestra fühlte doch ein wenig Mitleid mit ihm und gestattete das Erbetene unter den Bedingungen, die er sich auferlegt hatte. Der Jüngling legte sich also neben ihr nieder und berührte sie nicht, sondern richtete alle Gedanken auf seine lange Ausdauer in der Liebe zu ihr, auf ihre gegenwärtige Grausamkeit und seine vernichteten Hoffnungen und beschloß, nicht mehr leben zu wollen. Und so hielt er die Lebensgeister an, preßte die Hände zusammen und starb, ohne einen Laut von sich zu geben, an ihrer Seite.
Die junge Frau wunderte sich inzwischen über seine Enthaltsamkeit und sagte nach einer Weile aus Besorgnis, daß ihr Mann aufwachen möchte: »Nun, Girolamo, warum gehst du denn noch nicht?« Da sie keine Antwort erhielt, glaubte sie, er möchte eingeschlafen sein, und streckte die Hand nach ihm aus und begann ihn zu rütteln, daß er aufwachen sollte. Als sie aber bei der Berührung fühlte, daß er kalt wie Eis war, verwunderte sie sich sehr, und wie er bei abermaligem stärkerem Anfassen sich nicht bewegte, erkannte sie nach öfter wiederholten Versuchen, daß er tot war.
Voller Schrecken darüber wußte sie geraume Zeit lang durchaus nicht, was sie nun tun sollte, bis sie sich endlich entschloß, ihren Mann dadurch über den Vorfall auszuforschen, daß sie ihm denselben unter erfundenen Namen vortrug. Sie weckte ihn daher, erzählte ihm, was soeben hier geschehen war, als habe es sich im Hause eines anderen zugetragen, und fragte ihn alsdann, was er beschlösse, wenn ihm dasselbe begegnete. Der gute Mann erwiderte, seinem Dafürhalten nach müsse man in einem solchen Fall den toten Körper in aller Stille bis zu seiner Wohnung zurücktragen und ihn dort liegenlassen, ohne fernerhin der Frau, die ihm nicht gefehlt zu haben scheine, Groll nachzutragen. »Nun«, entgegnete die junge Frau, »so laß uns denn dasselbe tun.« Und damit nahm sie seine Hand und ließ ihn den toten Jüngling anfühlen. Ganz erschrocken über diesen Vorfall stand der Mann auf und zündete Licht an. Dann bekleidete er, ohne mit der Frau, der ihre Unschuld zu Hilfe kam, weiter über die Sache zu reden, die Leiche mit des Verstorbenen eigenen Kleidern, nahm sie alsbald auf die Schultern und trug sie bis an die Tür des Hauses, das Girolamo bewohnt hatte, wo er sie niederlegte.
Als darauf der Tag anbrach und der Tote vor der Pforte seines eigenen Hauses gefunden wurde, erhoben alle, besonders aber die Mutter, ein großes Wehklagen. Man untersuchte und besichtigte den ganzen Körper. Da sich aber keine Wunde und keine Quetschung fand, erklärten die Ärzte sämtlich, er müsse, wie es wirklich war, vor Gram gestorben sein. Nachdem man die Leiche von dort hinweggenommen und in eine Kirche gebracht hatte, kam die betrübte Mutter mit vielen ändern verwandten und benachbarten Frauen, und sie beweinten und beklagten nach der Sitte unserer Stadt den Verstorbenen gemeinsam mit unzähligen Tränen.
Während nun diese Wehklagen mit voller Heftigkeit anhielten, sagte der gute Mann, in dessen Hause sich der Todesfall zugetragen hatte, zu Salvestra: »Du könntest doch einmal einen Mantel umnehmen und in die Kirche gehen, wo sie den Girolamo hingebracht haben. Stelle du dich unter die Frauen und merke auf, was über den Vorfall geredet wird. Ich werde dasselbe unter den Männern tun, damit wir erfahren, ob die Leute über uns etwas sagen.« Der jungen Frau, bei der das Mitleid etwas spät gekommen war, gefiel der Vorschlag, da sie den Jüngling, den sie zu seinen Lebzeiten nicht mit einem einzigen Kusse hatte erfreuen wollen, nun, da er tot war, zu sehen wünschte, und so ging sie hin.
Wunderbar ist es, wenn man bedenkt, wie schwer die Gewalt der Liebe zu erforschen ist. Dasselbe Herz, das sich dem Glück des Girolamo nicht hatte auftun wollen, ward nun von dessen Unglück erweicht. Alle die alten Flammen erwachten plötzlich aufs neue und verwandelten sich beim Anblick des toten Angesichts in solches Mitleid, daß Salvestra sich ganz mit dem Mantel verhüllte und zwischen den umstehenden Frauen sich so lange vordrängte, bis sie zur Leiche gelangt war. Hier fiel sie mit einem lauten Schrei auf das Gesicht des toten Jünglings nieder, badete es aber nicht mit Tränen; denn sie hatte es kaum berührt, als der Schmerz ihr das Leben nahm, wie er dem Girolamo früher das seine genommen hatte. Die Frauen sprachen ihr, ohne sie erkannt zu haben,
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