Das Deutsche als Männersprache
2 4 J ahre lebt ... rechnen können, weil ein Biograph sich normalerweise weitgehend in seinen Helden einfühlt.
4 Analyse zweier Texte über die Widerstandskämpferin Hilde Coppi im Hinblick auf ihre Empathiestruktur
Es folgt nun die bereits angekündigte Feinanalyse zweier Texte über ein und dieselbe Person und ein und denselben Sachverhalt, die sich nur in ihrer Oberflächenstruktur unterscheiden und deren Unterschiede sich am besten als Unterschiede hinsichtlich des Grades an Empathie mit der Hauptperson, Hilde Coppi, interpretieren lassen.
Beide Texte haben also dasselbe »Thema«. Insofern sind sie auch gute Demonstrationsobjekte für den Unterschied zwischen Thema und Empathiezentrum —zwei Begriffe, die eng zusammengehören, aber doch unterscheidbar sind und unterschieden werden müssen.
Zunächst also die Texte. Ich nenne sie »Text A« und »Text B«.
A: Hilde Coppi
Mit ihrem Mann, Hans Coppi, wegen Zugehörigkeit zu einer sozialistischen Widerstandsgruppe im September 1942 verhaftet. Im Gefängnis wird der Sohn Fritz geboren; einen Monat darauf wird der Vater, acht Monate später, am 5. August im Alter von 34 Jahren, die Mutter hingerichtet.
B: Hilde Coppi wurde wegen Zugehörigkeit zu einer sozialistischen Widerstandsgruppe im September 1942 zusammen mit ihrem Mann verhaftet. Sie gebar im Gefängnis ihren Sohn Fritz. Einen Monat darauf wurde ihr Mann, acht Monate später, am 5. August 1943, sie selbst im Alter von 34 Jahren hingerichtet. (In Wirklichkeit hieß der Sohn auch Hans. Um die Beschreibung nicht unnötig zu komplizieren, habe ich ihn hier Fritz genannt.)
Zur Geschichte der Texte: Der erste erschien 1954 in dem Sammelband Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 bis 1945, herausgegeben von Helmut Gollwitzer, Käthe Kuhn und Reinhold Schneider. Der zweite erschien 28 Jahre später, im September 1982, in dem Sammelband Liebe Mutter, liebe Tochter. Frauenbriefe aus drei Jahrhunderten, herausgegeben von Jutta Radel. Als Quelle für das Kapitel »Abschiedsbriefe deutscher Widerstandskämpferinnen« gibt Jutta Radel die Sammlung von 1954 an.
Es ist offensichtlich, daß Text B eine redigierte Version des Textes A ist. Warum aber wurde Text A redigiert und warum gerade so und nicht anders? Ich habe die Herausgeberin nicht extra gefragt, weil ich meine, daß der Grund für die Redaktion aus der Art der Redaktion und aus dem neuen Kontext, in den der alte Text gestellt werden sollte, direkt erschließbar ist. Du hast mich heimgesucht bei Nacht ist eine Dokumentensammlung über den Widerstand, genauer: über Männer des Widerstands — unter den 69 Personen sind nur 6 Frauen versammelt worden. Liebe Mutter, liebe Tochter ist dagegen ein Buch über Mütter und Töchter, auch Mütter und Töchter von Widerstandskämpferinnen.
Wir haben oben an dem Beispiel »Hast du mit Frau Müller gesprochen ?« gesehen, daß es ein sozialer Verstoß ist, wenn ich einer Freundin gegenüber ihre Mutter als »Frau Müller« bezeichne. Der Ausdruck der Empathie wird also auch sehr streng durch die Beziehung geregelt, die angesprochene Personen zu den besprochenen Personen haben. Wer ist nun angesprochen bei dem Buch über den Widerstand, wer bei dem Buch über Mütter und Töchter? Es ist anzunehmen, daß das Widerstandsbuch sich (trotz seiner Zurückhaltung in bezug auf Widerstandskämpferinnen) an beide Geschlechter richtet, das Mütter-Töchter-Buch dagegen in erster Linie an Frauen, und zwar nicht nur an Frauen im allgemeinen, sondern vor allem an politisch sensibilisierte Frauen, Angehörige oder »Sympathisantinnen« der Frauenbewegung. Ohne die Frauenbewegung gäbe es nämlich solche Sammlungen wie die von Jutta Radel überhaupt nicht. Es ist dies ja auch durchaus nicht das einzige Buch dieser Art — gerade in den letzten Jahren sind sehr viele Sammlungen mit Frauenbriefen erschienen (z.B. Böttger, Behrens, Sperr). In den fünfziger und sechziger Jahren gab es dafür kein Publikum und daher auch keine solchen Veröffentlichungen.
Ganz gleichgültig, wie es um die Empathie der Herausgeberin selbst in bezug auf Hilde Coppi bestellt sein mag — sie mußte mit bestimmten Empathie- Erwartungen ihres Publikums rechnen und auf diese Rücksicht nehmen. Und einem für die Belange von Frauen sensibilisierten Publikum sind Texte wie A einfach nicht zuzumuten, so »unschuldig« und »gutwillig« dieser auch verfaßt worden sein mag. Ein Satz wie Im Gefängnis
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