Das Deutsche als Männersprache
wir oft den unabweisbaren Eindruck, daß die Autoren sich in manche der beschriebenen Personen mehr einfühlen als in andere. Ein Konflikt im Zuge der Rezeption entsteht genau dann, wenn auf der Empfängerseite eine andere Empathieverteilung erwartet wird, als der Autor sie vorgenommen hat. Typisch für diese Art von Konflikt sind z.B. manche Texte von Männern über Männer und Frauen, die heute von vielen Frauen anders beurteilt werden, als es noch bis vor kurzem der Fall war.
2. Anders als die Literaturwissenschaft (Stichwort >Perspektive< oder >point-of-view<) hat sich die Linguistik mit Empathiephänomenen bisher kaum auseinandergesetzt. Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Cantrall 1974 sowie von Kuno und Kaburaki 1975 dar.
3. Kuno und Kaburaki 1975 haben eine Sprecher-zentrierte Theorie über Syntax und Empathie entwickelt. Diese Theorie geht aus von bestimmten Sachverhaltsstrukturen und deren diversen Versprachlichungsmöglichkeiten. Der Sprecher kann eine der am Sachverhalt beteiligten Personen als Empathiezentrum wählen und die anderen Personen diesem Zentrum zuordnen. Die Empathiestruktur manifestiert sich in der Art der Beschreibungen sowie in den drei Hierarchien
Subjekt — Objekt — Passiv-Agens
Sprecher — Hörer — besprochene Person
Topic — Nicht-Topic
4. Diese Theorie von Kuno und Kaburaki habe ich anhand zweier Texte, die sich nicht inhaltlich, sondern nur syntaktisch unterscheiden, überprüft. Bei der Anwendung der Theorie stellte sich heraus, daß sie insofern ergänzt werden muß, als der Sprecher den Ausdruck seiner Empathie gemäß den Erwartungen der Angesprochenen zu regulieren hat. Diese Erwartungen mögen zwar individuell verschieden sein, sind aber im wesentlichen doch stark gesellschaftlich bedingt und historischer Entwicklung unterworfen. Die beiden analysiertenTexte können als Beweis dafür aufgefaßt werden, daß Empathie für bestimmte Personen und Personenkreise genau dann zum Ausdruck gebracht wird, wenn diese Personen den Angesprochenen nahestehen oder sonstwie wichtig und interessant sind. Das Verhältnis des »Sprechers« zu den beschriebenen Personen ist demgegenüber zweitrangig.
Weiter hat die Textanalyse ergeben:
a) Es gibt Textsorten, die mehr Empathie verlangen als andere. Amtliche Protokolle und private Briefe weisen diesbezüglich große Unterschiede auf. Wenn ein Kurztext theoretisch auch als Teil eines freundschaftlichen Briefes fungieren kann, so ist er schon dadurch als empathiehaltig ausgewiesen.
b) Das einmal gewählte Empathiezentrum kann innerhalb eines auch kurzen Textes wechseln oder sonstwie aufgegeben werden, etwa zugunsten einer »neutralen Außenperspektive«. Die neutrale Außenperspektive ist diagnostizierbar am Gebrauch symmetrischer Bezeichnungen wie Mary and John oder Hilde, Hans und Fritz Coppi oder die Mutter, derVater, der Sohn.
c) Nach dem Exkurs zu einem Neben-Empathiezentrum kann zum Haupt-Empathiezentrum zurückgekehrt werden. Dies kann mit besonderen sprachlichen Mitteln angezeigt werden, z.B. mit der Partikel selbst.
d) Die Häufigkeit der Nennung einer bestimmten Person, sei es in unabhängiger oder abhängiger Konstruktion, korreliert mit ihrem Rang innerhalb der Empathiehierarchie. Die Häufigkeit wiederum ist abhängig von der Wahl bestimmter syntaktischer Strukturen. Im Aktivsatz z.B. muß das Agens genannt werden, während es im Passivsatz fehlen kann.
5. Für Empathie-Analysen allgemein gilt das Prinzip der Zurückführung auf die Verhältnisse in der direkten Rede: Empathie mit einer der beschriebenen Personen liegt dann vor, wenn für sie selbst und die anderen Personen diejenigen Bezeichnungen gewählt werden, die diese Person selbst gewählt hätte.
Ich glaube, daß linguistische Analysen der Empathiestruktur von Texten sinnvoll die bisher von der Literaturwissenschaft zum Thema >Perspektive< geleistete Arbeit ergänzen können. Wenn das hier in Ansätzen vorgeführte Analyse-Instrumentarium weiter entwickelt wird, besitzen wir damit eine gute und interessante Methode, Texte neu zu betrachten, neu einzuordnen und neu zu beurteilen.
1982
Feminismus und Frauenbewegung
Versuch einer Begriffsklärung
Die Begriffe >Frauenbewegung< und >Feminismus< hängen zusammen — aber wie? Fiandelt es sich um zwei Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache, wie bei dem Wortpaar Korrektur und Berichtigung ? Ist demnach vielleicht das Wort Feminismus nur eine praktische Erfindung, um das Reden über das, was mit der
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