Das Diamantenmädchen (German Edition)
gewesen, dass er noch lebte. Dass er eben nicht für immer verloren war, wie sie in den letzten neun Jahren gedacht hatte. Dass es Hoffnung gab, ihn wiederzusehen. Der Schock war fürchterlich gewesen, aber das machte Lilli nicht so elend. Es war Paul. Es war der Gedanke, dass Paul sie belogen hatte. Und, schlimmer noch, dass sie ihm geglaubt hatte. Paul hätte sie nicht belügen dürfen. Sie hatte Paul von Anfang an geliebt. Ich hätte ihm alles verziehen, dachte sie dunkel, vielleicht sogar den Mord. Ich habe ihn gefragt, dachte sie verzweifelt und musste wieder gegen die Tränen kämpfen, während sie über eine Kreuzung eilte und den seltsamen, doppelten Glockenschlag der Matthiaskirche hörte, der alle Viertelstunden zweimal ertönte. Er hat mich immer wieder belogen. Der Anhänger, dachte sie bitter, er hat gesagt, er hätte ihn verloren! Und wir wollten ihn doch für immer tragen. Sogar Wilhelm hatte ihn noch! Und ich habe ihn noch gegen Schambacher verteidigt, dachte sie voller Scham. Sie wäre gerne wütend geworden, aber das konnte sie nicht. Sie hatte Paul verloren. Nach zwanzig Jahren hatte sie Paul verloren. Es war, als hätte man die Mitte aus ihrem Leben gerissen.
Sie war an der Kirche angelangt und blieb einen Augenblick vor dem Tor stehen. Es war niemand zu sehen, aber sie war auch zehn Minuten zu früh. Sie fror so, dass sie die Tür aufstieß und hineinging. Schlau, dachte sie in bitterem Spott, als sie den Weihrauch roch, von Schubert hat eine katholische Kirche ausgesucht. Die haben auch abends noch auf. In der Kirche war es kaum heller als draußen. Am Altar brannten zwei Kerzen still in der ruhigen Luft. Auch auf einem Seitenaltar standen ein paar brennende Kerzen vor einer Marienstatue. Es war gar nicht so kühl hier – die Steine speicherten vielleicht noch einen Rest Wärme des sonnigen Herbstes. Die Bänke waren leer, und die Stille dröhnte in ihren Ohren. Lilli sah sich kurz um, dann stieg sie im Seitenschiff nach oben auf die Empore und ging ein Stück zur Mitte hin. Dort setzte sie sich auf eine Bank. Hier oben war es fast völlig dunkel, nur von den Straßenlaternen sickerte schwach das Licht durch das bunte Glas der Scheiben. Lilli war ganz mit sich allein. Sie überlegte, was sie zu Paul sagen konnte. Und sie bereute inzwischen, dass sie Schambacher angerufen hatte.
Draußen fuhr ein Auto vor. Sie hörte die Bremsen und das Klappen des Wagenschlags. Dann wurde das Kirchentor geöffnet. Lilli beugte sich ein wenig vor. Es war von Schubert. Er hatte den Hut in der Hand, blieb am Anfang des Mittelschiffs stehen und sah sich suchend um.
»Herr van der Laan?«, fragte er, ohne die Stimme zu heben, dann sah er auf die Uhr. Es war noch nicht ganz sieben. Lilli hörte ein Poltern und erschrak, aber dann merkte sie, dass es das Läutwerk war, das weiter oben zu rumpeln begann, und dann hob auch schon das Läuten an. Es musste an den Glocken gelegen haben, dass Lilli die Kirchentür nicht gehört hatte, als Paul hereinkam.
»Ein ungewöhnlicher Ort«, bemerkte von Schubert, als er ihn sah. Lilli wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte ja die Diamanten nicht mehr. Aber sollte Paul doch sehen, wie er da herauskam, dachte sie und verhielt sich weiter still.
»Ja«, sagte Paul und fuhr gleich fort, »hören Sie, Herr von Schubert, es ist mir etwas unangenehm, aber ich warte noch auf Fräulein Kornfeld.«
»Ach?«, sagte von Schubert überrascht. »Wieso? Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«
Er streifte die Handschuhe ab, nahm seine Aktentasche hoch und öffnete sie.
»Wir müssen uns ja auch gar nicht lange aufhalten«, sagte er und nahm etwas heraus, das Lilli nicht erkennen konnte.
»Hier«, sagte er zu Paul, »die restlichen Diamanten. Es sind vierundzwanzig, und ich möchte Sie bitten, wieder zu quittieren.«
Lilli sah jetzt, dass von Schubert Paul ein Kästchen gegeben hatte.
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Paul jetzt verwirrt, »ich dachte, Sie wollten die Diamanten zurück?«
»Ja, mein Lieber«, sagte von Schubert amüsiert, als hätte Paul einen Scherz gemacht, »deshalb sollen Sie ja quittieren. Ich würde mich in der Tat freuen, wenn ich sie zurückbekäme. Geschliffen, natürlich.«
Lilli verstand gar nichts mehr. Sie sah, dass Paul das Telegramm aus der Tasche holte.
»Hier!«, sagte er brüsk und reichte von Schubert das Telegramm. »Sie haben mich doch gebeten, Ihnen heute die Diamanten zurückzugeben. Wieso bringen Sie mir dann welche mit?«
Von Schubert
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