Das Diamantenmädchen (German Edition)
nahm etwas verwirrt das Telegramm entgegen, las es, dann ließ er es sinken.
»Herr van der Laan«, sagte er leise, »dieses Telegramm kommt nicht aus meinem Büro. Ich dagegen hatte einen gesiegelten Rohrpostbrief von Ihnen mit der Bitte, mich hier zu treffen.«
»Ich habe Ihnen nicht geschrieben!«, sagte Paul kurz. Lilli wusste nicht, was sie glauben sollte. War das wieder eine Finte Pauls? Wieder eine Lüge? Und wozu?
Es gab eine sehr kurze Pause, bis von Schubert in völlig verändertem Ton militärisch knapp sagte:
»Herr van der Laan, geben Sie mir das Kästchen zurück. Wir verlassen sofort diese Kirche. Geben Sie mir bitte auch …«
Weiter kam er nicht. Aus dem tiefen Schatten einer der beiden Säulen am Eingang löste sich eine Gestalt, und Lilli holte entsetzt und scharf Luft, als sie die schnarrende, leicht gurgelnde Stimme ihres Bruders hörte.
»Gib mir das Kästchen, Paul.«
Paul und von Schubert waren zusammengefahren.
»Wer sind Sie?«, fragte von Schubert ärgerlich.
Wilhelm ging auf von Schubert keinen Augenblick ein, sondern streckte die Hand nach dem Kästchen aus, das Paul noch hielt.
»Gib es mir«, sagte er kehlig, und dann, ohne den Blick von Paul zu wenden, sagte er mit fast zärtlicher Stimme:
»Komm herunter, Lilli!«
Lilli stand mit zitternden Knien auf. Sie wusste nicht, was geschah. Wollte Wilhelm sie vor Paul beschützen? Wieso war er noch hier?
»Lilli!« Paul rief es überrascht, »wieso hast du nicht … ich habe auf dich gewartet!«
»Ich habe deine Diamanten nicht«, sagte Lilli mit zitternder Stimme, während sie die Treppe zum Kirchenschiff hinunterstieg, »und ich denke, du weißt, warum.«
Es war noch keine halbe Minute her, dass Wilhelm aus dem Schatten getreten war. Draußen klingelte eine Straßenbahn vorbei. Wie eigenartig, so ein alltägliches Geräusch in dieser bizarren Situation zu hören. Lilli war unten angelangt und kam zögernd auf die drei Männer zu. Erst jetzt sah sie, dass Wilhelm in der rechten Hand locker eine Pistole hielt.
»Lilli«, sagte Paul. Es klang besorgt. »Was ist mit dir?«
Lilli antwortete nicht und Pauls Blick sprang rasch zwischen ihr und Wilhelm hin und her.
»Ach so«, sagte er dann, plötzlich verstehend, »du hast ihn schon gesehen.«
»Ja«, sagte Lilli.
»Das Kästchen«, sagte Wilhelm noch einmal, aber diesmal hob er die Pistole etwas.
»Ich nehme an«, sagte von Schubert angespannt, aber beherrscht, »dass Sie uns beide hierher eingeladen haben, ja?«
Wilhelm antwortete nicht. Paul reichte ihm eben das Kästchen, als die Kerzen auf dem Altar flackerten. Die Tür öffnete sich. Schambacher, dachte Lilli.
»Herr van der Laan?«, rief Schambacher ziemlich laut, noch bevor er ganz zu sehen war. »Herr van der Laan, sind Sie da?«
»Ja!«, rief Paul zurück. War er erleichtert? Lilli war überrascht.
»Ich bin hier, aber …«
»Still!«, sagte Wilhelm laut. Lilli drehte sich um und sah Schambacher mit zwei Polizisten hereinkommen. Und dann geschah alles sehr schnell. In dem Augenblick, in dem sich die Uniformen der beiden Schupos in der Dunkelheit abzeichneten, hob Wilhelm in einer einzigen fließenden Bewegung die Pistole und feuerte, ohne Warnung und ohne Zögern vier, fünf, sechs Schüsse auf sie ab. Lilli schrie.
»Runter! Runter! Runter!«, brüllte Schambacher, der sich sofort auf den Boden geworfen hatte. Die Reflexe aus dem Krieg waren noch immer da. Dröhnend hallten die Schüsse in der Kirche wider. Irgendetwas fiel dumpf, und ein Mann schrie entsetzt auf. Paul atmete schnell und flach.
»Keiner bewegt sich!«, rief die gurgelnde Stimme Wilhelms. »Keiner. Keine einzige Bewegung. Werfen Sie Ihre Pistole weg!«, schrie er Schambacher an, der in die Knie gegangen war, aber seine Waffe nicht verloren hatte. Lilli sah zu Schambacher hinüber, doch der beachtete sie gar nicht. »Nein«, sagte Schambacher vor Aufregung zitternd, aber entschlossen, »Sie legen Ihre Waffe weg. Wer sind Sie?«
Wilhelm antwortete nicht, sondern tat einen Schritt auf von Schubert zu, hielt ihm die Waffe an den Kopf.
»Wilhelm!«, rief Lilli schockiert. Sie wusste immer weniger, was hier geschah, was richtig und was falsch war, welche Rollen Paul und Wilhelm spielten, aber sie wusste, dass ihr Bruder zu weit gegangen war.
»Wilhelm, lass ihn in Ruhe!«
Wilhelm achtete nicht auf sie. Er beobachtete Schambacher und Paul.
»Nein«, sagte Wilhelm dann.
Von Schubert zitterte, aber er nahm sich zusammen.
»Kronacher«, sagte er,
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