Das Diamantenmädchen (German Edition)
gedeutet, wo eben die Frühlingssonne klar in einen blassen, blauen Himmel aufging. Und dann war sie aus dem Hause gewesen, bevor die Mutter noch etwas sagen konnte. Natürlich hatte sie schon die ganze Woche gewusst, dass es die Studierstunden geben würde. Dass sie sie aber schwänzen würde, das hatte sie erst gestern beschlossen, als sie am späten Nachmittag das Fenster zum Garten geöffnet hatte, um die laue Frühlingsluft in ihr Zimmer zu holen. Dort, zwischen den Scharnieren der ausstellbaren Läden hatte ein Briefchen geklemmt, eben dort, wo seit Kinderzeiten das geheime Postamt für den Briefverkehr zwischen Paul van der Laan und Lilli und Wilhelm Kornfeld war. Lillis Zimmer lag im Parterre, deswegen erreichten alle Briefchen sie; und wenn es früher vor allem Briefe an Wilhelm gewesen waren – Verabredungen zu Indianerspielen, zum verbotenen Angeln, zum abendlichen Schwimmen im See –, dann waren es in den letzten acht Wochen immer häufiger kleine Briefchen an sie. Lilli hatte Paul seit einer Woche nicht gesehen – er war mit dem Vater auf eine Geschäftsreise nach Süddeutschland gegangen, um dort neue Kunden aufzutun. Diamanten verkauften sich in Kriegszeiten schlecht, und dazu kam, dass viele der internationalen Kunden seit 1914 natürlich nicht mehr in Deutschland kauften. Da nützte auch der niederländische Name der Familie nichts, eher im Gegenteil. Deutsche Kunden zögerten jetzt oft, wenn sie den Namen des Schleifers hörten, weil sie glaubten, er sei Belgier und damit eigentlich ein Feind.
»Morgen halb elf auf dem Friedhof?«
Es war eigentlich eine fast militärisch kurze Nachricht, aber für Lilli hörte sie sich sehr romantisch an. »Morgen halb elf auf dem Friedhof«, hatte sie vor sich hingesungen; auf eine Melodie, die sie selber erfand und die mit jeder Strophe etwas anders wurde.
Jetzt zeigte die große Uhr in der Aula auf ein Viertel nach zehn. Aus den Gängen der Schule drang das Gesumm des Unterrichts in vierzehn Klassen. Man hörte von fern die sonore Stimme Professor Brauns, der in der Sekunda Latein unterrichtete, ohne dass man einzelne Worte auseinanderhalten konnte. Auch die Rektorin konnte man hören, die Englisch gab. Unter der Uhr, gleich rechts neben dem Eingang in die Aula, hing das Nagelbild mit dem Löwen und der Inschrift: »Weltkrieg 1914–1916«. Vor zwei Wochen war es gekommen, und es war fast schon fertig genagelt. Sie hatte lange überlegt, ob sie von ihrem Taschengeld zehn kleine Silbernägel oder einen großen Goldnagel nehmen sollte, aber schließlich hatte sie daran gedacht, was der Pfarrer in der Schulandacht gesagt hatte: Eisern sollten sie sein und ihre Pflicht tun, und dann hatte sie doch die Silbernägel genommen, die ja eigentlich aus Eisen waren, und nicht den vergoldeten, obwohl Liese Scharnow natürlich den goldenen genommen hatte. Als sie nun schnell durch die Aula auf die großen Eichentüren zuging, durch deren bunte Fenster das Licht der Frühlingssonne farbige Schatten auf den Boden warf, musste sie noch einmal voller Stolz auf den Dolch unter dem Löwen sehen. Er bestand fast nur aus ihren Nägeln. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, dass sie auch zum Sieg beitragen konnte. Sie zog die schwere Tür einen Spalt auf, und schon war sie draußen. Drei Stufen führten auf die Straße, die um diese Zeit ganz unbelebt war. Das Lyzeum lag in Friedrichshain, und der Volkspark wäre nicht weit weg gewesen, aber sie hatten bei einem ihrer heimlichen Spaziergänge vor einiger Zeit – es hatte noch später Märzschnee gelegen – den Friedhof der Petrigemeinde entdeckt, der gleich beim Volkspark lag, aber meistens menschenleer war. Dort eilte
Lilli eben hin. Heute Morgen war es richtig kalt gewesen, aber jetzt schien die Sonne schon wunderbar warm. Sie war froh, dass sie in den Oberklassen keine Schulkleider mehr tragen mussten, denn sonst hätte sie Angst haben müssen, dass irgendjemand sie fragte, was sie vormittags auf der Straße zu tun hatte. Aber so, mit ihrem leichten Frühlingsmäntelchen, das sie als kleines, festes Paket aus der Schule geschmuggelt hatte, fühlte sie sich fast erwachsen. Es war so ein Vergnügen, durch den Frühling zu laufen. Sie wäre am liebsten gerannt, so weich und klar war die Luft. Ein ganz leichter Wind wehte durch die Straßen, und es roch – mitten in der Stadt – nach Erde und Frühjahr. Sie bog in die Friedenstraße ein und ging an dem langen, eisernen Zaun des Friedhofs entlang zum Eingang. Die Forsythien
Weitere Kostenlose Bücher