Das Diamantenmädchen (German Edition)
direkt am Zaun blühten gelb, und um viele Gräber standen Tulpen im akkuraten Viereck. Der Gegensatz zwischen den Farben und der strengen Form hatte etwas Heiteres. Der Friedhof selbst war weitläufig und wirkte fast wie ein Park, so viele Bäume standen dort. Die eisernen Tore in dem steinernen Portal waren angelehnt, und Lilli sah sich nach Paul um. Von der Petrikirche hörte sie halb elf Uhr schlagen. Vielleicht war er zu spät. Sie ging ein paar Schritte in den Friedhof. Das Vormittagslicht spielte im ersten Grün der Bäume und warf bewegte Schatten auf die Grabsteine. Der Friedhof war voller Vögel. Amseln sangen, und das allgegenwärtige Lärmen der Spatzen war lauter als das Rauschen der Stadt. Und dann das Locken der Holztauben – für Lilli war es seit der Kindheit ein Frühlingsgeräusch gewesen. Sie las die Inschriften einiger Grabsteine, aber selbst, wenn vor dem Sterbejahr eine Neunzehn stand, fiel es ihr an einem Tag wie diesem schwer, sich vorzustellen, dass man sterben konnte. Sie spürte die Sonne warm auf den Schultern, drehte sich ihr zu und schloss für einen Augenblick die Augen. Dass alles so neu und unverbraucht sein konnte! Dass man niemals müde wurde, sich vom Frühling verzaubern zu lassen. Dass es sich so wunderbar anfühlen konnte, am Leben zu sein!
»Hallo Puppchen«, sagte eine Stimme, der man die Erheiterung anhörte.
Halb erschrocken öffnete sie die Augen. Paul stand vor ihr und lächelte.
»Was war das? Eine kleine Sonnenblume, die sich immer nach dem Licht dreht?«
»Hallo Paul«, sagte Lilli, trotz ihrer Freude, ihn zu sehen, ein wenig schüchtern. Er sah so sehr erwachsen aus! Sie kam sich für einen Augenblick wieder vor wie das kleine Mädchen vor zehn Jahren. Aber mit diesem Gefühl spürte sie auch diese damals unbenennbare, stille und verschwiegene Freude wieder, die sie gehabt hatte, wann immer sie Paul sah.
Er wirkte schmal in seinem blauen Anzug, der ja eigentlich noch ein Winteranzug war. Sein Haar, das sich nie so ganz glatt kämmen ließ, stand unter der Mütze heraus. Ohne nachzudenken streckte sie die Hand aus und strich den Büschel glatt. Jetzt war es Paul, der verlegen lächelte.
»Wie lange hast du Zeit?«, fragte er.
»Bis zur Mittagspause«, sagte Lilli vergnügt. »Ich habe mich weggestohlen. Betty weiß Bescheid«, ergänzte sie hastig, als sie merkte, dass Paul besorgt etwas sagen wollte, »es kann nichts passieren.«
Sie gingen tiefer in den Friedhof hinein. Die Grabsteine standen hier nicht so in Reih und Glied wie auf manchen anderen Friedhöfen, sondern in einer fast heiteren Unordnung in einem lichten Wald aus Fichten, Weiden, Eichen und Linden. Alles Licht war in Bewegung. Sonnenflecken spielten auf den alten Steinen, grüne Schatten liefen über die Wege, auf den Tulpen und Krokussen und auf dem Tannengrün frischer Trauerkränze lag noch der mittlerweile geschmolzene Raureif als Tau, und sein Funkeln wanderte über Blüten und Grün, wenn man an ihm vorbeiging.
»Seit wann bist du zurück?«, fragte Lilli nach einiger Zeit.
»Seit gestern«, sagte er, »Wie hätte ich dir sonst schreiben sollen?«
»Ach«, sagte Lilli mit einem übertrieben unschuldigen Augenaufschlag, »ich wollte eigentlich bloß ein Gespräch beginnen. Wenn du so schweigsam bist. Warum überhaupt bist du dann nicht herübergekommen?«
Paul sah zu ihr hinüber und zuckte verlegen die Achseln.
»Na ja«, sagte er dann hilflos.
»Na dann«, antwortete sie boshaft, »jetzt verstehe ich.«
Sie hatte den Mantel ausgezogen und über die Schultern gehängt. Und es machte ihr Spaß zu beobachten, wie er manchmal heimlich auf ihre Knöchel sah, wenn beim Gehen ihr Kleid schwang, und er dann schnell verlegen wieder wegsah. Sie musste leise lachen, weil er sie doch früher so oft mit nackten Beinen gesehen hatte.
»Was?«, fragte er.
»Nichts«, sagte sie, »willst du mir nicht ein bisschen erzählen?«
»Doch«, sagte er, »gleich.«
Sie gingen nebeneinander her, ohne sich zu berühren, aber Lilli spürte die Nähe Pauls bei jedem Schritt. Es war, als ginge eine leichte Wärme von ihm aus wie von der Frühlingssonne zwischen den jungen Blättern der Bäume. Man ahnte sie mehr, als dass man sie richtig fühlte.
Sie waren ein wenig abseits der Wege gegangen; zwischen den Grabsteinen durch über das schon ziemlich hochgeschossene Gras.
»Da«, sagte Paul und streckte die Hand aus. Zwischen zwei großen Blautannen stand ein Mausoleum; ein richtiger kleiner Tempel mit
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