Das Diamantenmädchen (German Edition)
Lunow am anderen Ende grinste. Schambacher seufzte, aber mehr der Form halber. In Wirklichkeit war er froh über die Ablenkung. Athleten-Anna kannte ihn noch aus seiner Anfangszeit bei der Sitte. Er hatte sie einmal zu vernehmen gehabt, und wie das manchmal so war, selbst in diesem Beruf: Zwischen »Kundin« und Staatsgewalt hatte sich so eine Art Freundschaft entwickelt. Schambacher mochte sie wirklich gern.
»Ich komme mal rüber«, sagte er ins Telephon, »aber Sie schulden mir was, Lunow.«
»Immer gerne«, sagte Lunow heiter und legte auf.
Schambacher wanderte durch die abendlich erleuchteten Gänge der Fabrik, wie eigentlich alle – Kriminelle und Beamte – das Präsidium nannten, die zwei Stockwerke hinunter ins Diebstahldezernat. Schon von ferne hörte er Annas dröhnende Stimme.
»Nee, lass mir man! Ick sare ma jarnischt als bis det Doktorchen hier is.«
»Bin ick«, sagte Schambacher im breiten Berliner Zungenschlag, als er die Tür öffnete. Anna sah ihn und freute sich.
»Na endlich! Die Jungens hier wollen mir alle uffs Jlatteis führen, aba mit Anna – nee, mit mir nich!«
Die »Jungens« waren zugegebenermaßen etwas jünger als Anna, die wohl die Vierzig schon weit überschritten hatte, doch es handelte sich um Hilfskommissare und Sekretäre, die alle schon lange im Beruf standen und sicher nicht jünger als Schambacher waren. Athleten-Anna trug ihren Spitznamen zu Recht. Sie war um die eins neunzig groß, wog gewiss nicht unter neunzig Kilo, und diese neunzig Kilo waren in erster Linie Muskeln. Schambacher hatte ihre Akte gelesen und wusste, dass sie nicht ins Milieu geboren war und auch nicht die übliche Prostituierte mit ordinärer Berliner Schnauze war. Sie stammte sogar aus richtigem Adel, war die Tochter eines Rittergutsbesitzers, aber schon lange vor dem Krieg in die Berliner Halbwelt geraten. Laudanum und Schnaps und zu viele Zigaretten hatten ihre Stimme so tief wie die eines Mannes werden lassen, ihr Geschäft jedoch lief nicht schlecht; es gab immer ausreichend Freier, die eine Amazone erotisch fanden, die sie um einen Kopf überragte.
»Was hast du denn diesmal angestellt, Anna?«, fragte Schambacher, während er sich einen Stuhl nahm, ihr mit der anderen Hand eine Zigarette anbot und sich schließlich vertraulich nah zu ihr setzte.
Anna erzählte eine dieser Geschichten, wie sie im »Milljöh« wahrscheinlich hundert Mal in der Woche vorkamen. Es hatte einen Freier gegeben – einen etwas untersetzten Fabrikanten aus Dahlem –, er hatte mit Anna getrunken, man war handelseinig geworden und schließlich zu ihm in die Villa gefahren. Dort war ihm dann nun allerdings Anna vielleicht doch etwas zu mächtig vorgekommen; jedenfalls hatte er, wie Anna sich vergleichsweise vornehm ausdrückte, das Rennen abgebrochen, bevor es begonnen hatte. Schambacher und die anderen Herren versuchten, ein Lächeln zu unterdrücken. Es gelang nur halb.
»Sparsamkeit is ja wirklich ne Tujend, meine Herrn!«, sagte Anna. »Aba man soll et ooch nich übertreiben! Der Mann wollte mir nich bessahln.«
Auch das kam nicht selten vor. Was allerdings selten vorkam, war eine Schwalbe wie Anna. Im Gespräch erfuhr Schambacher, dass Anna den geizigen Fabrikanten ein wenig in den Schwitzkasten genommen, ihm dann eine halbe Flasche Mampe eingetrichtert und ihn schließlich vollkommen besoffen aufs Sofa hatte fallen lassen. Danach hatte sie sich aus seinem Portemonnaie hundert Mark genommen und war gegangen.
»Ja, und nu?«, fragte Schambacher halb amüsiert, halb verwundert die Kollegen vom Diebstahl.
Einer der Sekretäre gluckste.
»Der Herr hat Anzeige erstattet. Körperverletzung und Diebstahl. Und es seien drei- oder vierhundert Mark gewesen.«
»Ick hab ma nur jenommen, wat mir ssusteht!«, entrüstete sich Athleten-Anna. »Von wejen Körpavaletzung! Der kann ja noch dankbar sein! Det war meine Flasche Mampe! Doktorchen!«, wandte sie sich an Schambacher. »Können die mir wat deswejen?«
Schambacher nickte, bot Athleten-Anna noch eine Zigarette an und erläuterte ihr dann den juristischen Unterschied zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Einnahme alkoholischer Getränke.
»Und du hast wirklich nur hundert Mark jenomm?«, fragte er in vertrautem Ton.
»Na, ick wer doch nich!«, empörte sich Anna.
Schambacher überlegte kurz. Er mochte Athleten-Anna, aber das hieß nun nicht, dass er ihr einfach so glaubte. Sie war wegen Taschendiebstahls schon mal vorbestraft. Andererseits musste man
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